Es ist wohl eines der beliebtesten Fotosujets der Touristinnen und Touristen, die nach Luzern reisen: die Kapellbrücke mit dem Wasserturm inmitten der Reuss. Im Jahr 2019 – dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie – zählte die Stadt Luzern über eine Million Logiernächte, dazu kamen die Tagestouristen. Sie alle liefen wohl mindestens einmal über die Kapellbrücke und verwendeten dabei Ausdrücke wie «beautiful» oder «merveilleux».
Doch was heute die grosse Touristenattraktion ist, war gestern nicht sehr beliebt. Dies sagt Valentin Groebner. Er ist Historiker mit Spezialgebiet Mittelalter und Tourismus und Professor an der Uni Luzern: «Die frühen Reisenden beschreiben Luzern als eng, traurig und menschenleer. Die Brücken seien imposant, aus der Ferne, aber aus der Nähe düster, eng und stinkend.»
Die berühmte Holzbrücke wurde um 1360 gebaut. Sie ist also zirka 660 Jahre alt. Mit einer Länge von 205 Metern ist sie die zweitlängste überdachte Holzbrücke in Europa.
Abwehr gegen Angriffe vom Wasser her
Die Kapellbrücke mit dem Wasserturm war Teil der Stadtbefestigung. Luzern war schon damals eine abgeschlossene Stadt, an einem Fluss liegend. Der See war bedrohlich – da sich über diesen Weg der Feind anschleichen konnte. Die Brücken in Luzern waren deshalb ein Teil der riesigen Befestigungsanlage mit fast 50 Türmen. «Der Wasserturm war eine der Hochsicherheitszonen der Luzerner Stadtverwaltung. Dort wurden auch wichtige Gefangene gefoltert», sagt Valentin Groebner.
Die Kapellbrücke mauserte sich erst nach und nach zur Attraktion
Das Luzerner Wahrzeichen war also früher eine Verteidigungsanlage. Sie war somit weit weg von der heutigen schmucken, mit Geranienkästen bestückten Vorzeigebrücke für Touristen und Touristinnen aus aller Welt. «Die Kapellbrücke wird bis in die 1880er-Jahre nicht als schön empfunden. Sondern als schwarzes, hässliches, mittelalterliches Möbel.» Solche Zitate könne man in Stadtratsprotokollen nachlesen, sagt der Historiker Valentin Groebner.
Die Kapellbrücke wurde als schwarzes, hässliches, mittelalterliches Möbel empfunden.
Kein Wunder also, dass die Kapellbrücke eigentlich abgerissen werden sollte, so wie es mit der Hofbrücke geschehen ist. Der überwiegende Teil der Luzerner Bevölkerung wollte den Abriss der mittelalterlichen Stadtbefestigung. «Im 19. Jahrhundert wollte man den Fortschritt, wie Eisenbahnen und Fabriken und nicht altes Zeug aus dem Mittelalter.»
Die Kapellbrücke überlebte nur, weil sie kein Störfaktor war, führt Valentin Groebner aus: «Sie stand der Aussicht auf den See und auf den Berg nicht im Weg.»
Mythos der alten Brücke
Es ist also mehr oder weniger Zufall, dass Luzern heute eines ihrer grössten Wahrzeichen noch hat. Und mit einer weiteren Illusion räumt der Geschichtskenner Valentin Groebner auf: Nämlich, dass die Kapellbrücke wirklich so alt ist. Die Kapellbrücke sei ein schönes Beispiel, dass das, was die Menschen heute in der Altstadt Luzern besichtigen und bewundern, nicht sehr alt sei. Im Gegenteil, gerade das Wahrzeichen von Luzern sei ziemlich neu.
Ein Holzbau, der im fliessenden Gewässer steht, hält 40 – maximal 80 Jahre.
Die Kapellbrücke sei zwar aus dem Mittelalter, aber von dem, was heute stehe, sei sehr wenig aus dieser Zeit erhalten. «Ein Holzbau, der im fliessenden Gewässer steht, hält 40 – maximal 80 Jahre, dann muss er ausgetauscht werden.» Die Brücke muss also ständig ausgebessert, morsche Balken und Latten ersetzt werden.
So bleibt die berühmte Holzbrücke für die Touristinnen und Touristen aus aller Welt, aber auch für die Einheimischen ein gern besuchtes Schmuckstück.