April 2016: FDP-Nationalrat Kurt Fluri hat seinen Parteikollegen Erstaunliches zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative zu berichten. «Nach Rücksprache mit [Christoph] Blocher sind die SVP-Vertreter der Meinung, dass keine Zahl im Gesetz verankert werden soll.» Am Schluss werde der neue Verfassungsartikel wohl zum Papiertiger.
Auch in einem vertraulichen Protokoll einer Sitzung von bürgerlichen Politikern mit Wirtschaftsvertretern im März 2016, das die «Sonntagszeitung» veröffentlicht hat, steht: «Blocher: Im Sinne eines Kompromisses bräuchte es kein Zahlendach.»
Kurt Fluri ist Vizepräsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. Sie machte Vorschläge, wie der Volkswille umgesetzt werden kann. Wenige Stunden nach Fluris Mitteilung zu Blocher verlangt SVP-Nationalrat und Kommissionsmitglied Andreas Glarner, Höchstzahlen und Kontingente für das neue Gesetz zu prüfen.
Sommer 2016: Glarner will das Gesetz so geändert haben, dass die Personenfreizügigkeit abgeschafft würde. Damit geht er viel weiter, als die Stimmbürger entschieden haben. Gleichzeitig setzt sich Christoph Blocher öffentlich für den Erhalt des bilateralen Weges ein. Ein Widerspruch? «Nein», meint Glarner gegenüber «DOK»:
Das gehört zum Spiel. Es ist Teil der SVP-Strategie, den Gegner zu verunsichern.
Scharfe Kritik, aber kein Referendum
Dezember 2016: Das Parlament beschliesst eine äusserst schwache Umsetzung der Initiative – konkret mit einem Vorrang für Arbeitslose bei offenen Stellen. Die SVP hält mit Kritik nicht zurück und spricht von «Volksverrat». Die «Weltwoche» nennt die anderen Mitglieder der gesetzgebenden Kommission «Saboteure».
Gleichzeitig aber verzichtet die SVP darauf, das Referendum zu ergreifen. Warum? Auch eine siegreiche Referendumsabstimmung würde den heutigen Zustand nicht ändern, sagt Chef-Stratege Christoph Blocher: Das Parlament habe eine Nulllösung beschlossen.
Der Bundesrat hat sich dieser Nulllösung angeschlossen. Wer vor der EU auf den Knien herumrutscht, wird den Volkswillen nicht erfüllen können.
Es ist nicht das erste Mal, dass Blocher so argumentiert.
Die Geschichte wiederholt sich
Rückblende 8. Oktober 1999: Im Parlament findet die Schlussabstimmung zu den bilateralen Verträgen statt – jene Verträge also, die der Bundesrat nach dem Nein zum EWR – Blochers grösstem Erfolg – mit der EU aushandelte.
Der damalige Nationalrat Blocher geht zum Rednerpult und sagt, er habe die Verträge abgelehnt. Das Referendum gegen die Bilateralen ergreife er dennoch nicht. Die Begründung: «Neue Verhandlungen durch den Bundesrat würden keine besseren Ergebnisse bringen. Er ist dazu nicht fähig».
«Die SVP zögert mehr als die Auns»
Zurück im Dezember 2016: Am Tag der Schlussabstimmung im Parlament zur MEI-Umsetzung überrumpelt die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) die SVP. Sie kündigt an, eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zu lancieren.
3 Jahre MEI
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Der Start der Unterschriftensammlung wurde symbolträchtig für den 9. Februar angekündigt, also drei Jahre nach der MEI-Abstimmung. Geschehen ist das nicht. SVP-Nationalrat Lukas Reimann sagt, es brauche mehr Zeit.
Wurde er von der SVP zurückgepfiffen? «Die SVP hat ein bisschen mehr gezögert als die Auns», sagte Reimann gegenüber SRF. Und es mache sicher Sinn, sich mit der SVP abzusprechen.
Auns-Aufstand gegen Blocher
Dass die Auns kampfeslustiger ist als die SVP – auch das ist nicht neu: Schon im Mai 2000 geriet für Christoph Blocher die Parolenfassung zum Showdown. Rund 1200 eingefleischte Anhänger proben den Aufstand, als Blocher ihnen schmackhaft zu machen versucht, keine Parole für die Abstimmung über die Bilateralen zu fassen. Die Basis setzt sich grossmehrheitlich durch, die Auns fasst die Nein-Parole. Die SVP Schweiz aber sagt Ja.
Dieselben Parolen früher wie heute
Januar 2017: SP-Politologe Nenad Stojanovic wirbt an der SVP-Delegiertenversammlung für das von ihm ergriffene Referendum gegen das Gesetz für die MEI-Umsetzung des Parlaments. Blocher warnt seine Partei, Stojanovic nicht «auf den Leim» zu gehen. Die SVP spricht von einem «Schein-Referendum».
Auch hier wiederholt sich die Geschichte: 2009 stimmt die Schweiz über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien ab. Das Parlament hatte die Ausweitung auf die zwei neuen Staaten verknüpft mit der Fortführung der Personenfreizügigkeit mit den alten EU-Staaten.
Zuerst kündigt Blocher an, das Referendum gegen dieses Gesamtpaket zu ergreifen. Die Personenfreizügigkeit sei bei einem Ja zum Referendum nicht in Gefahr; man könne die Verträge mit den alten EU-Staaten auch ohne Ausweitung auf Rumänien und Bulgarien weiterführen.
Einen Monat später dann die Kehrtwende: Kein Referendum, weil es sich um ein «Schein-Referendum» handle. Blocher ändert sein Argumentarium: Jetzt sagt er, es sei nicht klar, wie ein Ja oder ein Nein zur Vorlage des Parlaments zu interpretieren sei.
«Schein-Referendum» und «Totengräber der Demokratie»
«Totengräber der Demokratie», ruft 2009 der damalige SVP-Präsident Toni Brunner an die Adresse von SP, CVP und FDP. Dieselben Worte gebraucht SVP-Fraktionspräsident Adrian Amstutz beim MEI-Showdown im Nationalrat im letzten September. Eine unendliche Geschichte.
Politologen sagen: Die SVP fährt bei der Europapolitik Slalom, weil sie gespalten ist in einen europafreundlichen Wirtschaftsflügel und einen öffnungsfeindlichen Flügel der Basiswähler.