Historikerinnen und Historiker haben schweizweit die Archive der römisch-katholischen Kirche durchforscht, mit besonderem Augenmerk auf sexuelle Übergriffe. Die Untersuchung brachte von 1950 bis heute 1002 Missbrauchsfälle zutage. Bischof Joseph Bonnemain zu den Massnahmen der Kirche.
SRF News: Dass es sexuelle Übergriffe gibt in der katholischen Kirche, ist schon seit Jahrzehnten bekannt. In anderen Ländern hat man schon viel früher hingeschaut, wieso in der Schweiz erst jetzt?
Joseph Bonnemain: Erstens, weil die Schweiz komplex ist. Es gibt viele Kantone und verschiedene Kulturen, die miteinander leben in diesem Land. Wir haben die staatskirchenrechtlichen Organisationen, also die Landeskirchen, die Bistümer und auch die Ordensgemeinschaften. Und wir wollten von Anfang an, dass diese drei Institutionen zusammenwirken in einer solchen Studie. Bis wir alle überzeugt haben, das zustande zu bringen, hat Zeit gekostet und Überzeugungskunst.
Wir brauchen unbedingt einen radikalen Kulturwandel.
Gleichzeitig brauchen wir unbedingt einen radikalen Kulturwandel. Also dass nicht mehr die Institutionen, die Kirche und der gute Ruf im Mittelpunkt stehen und noch weniger die Täter, sondern die Opfer und die Menschen. Wir brauchten Zeit, um diesen Kulturwandel selber zu vollziehen.
Eine Vorstudie hat 1002 Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in der Schweiz dokumentiert. Und Historikerinnen sagen, das ist nur die Spitze des Eisbergs, da werde noch viel mehr kommen.
Die Forschenden haben weitere Opfer ermutigt, sich zu melden und auch Menschen, die Kenntnisse haben von solchen Übergriffen. Daher wird es so sein, dass sich bestimmt viele melden.
Solche Übergriffe hinterlassen Wunden, ein Leben lang.
Aber das ist gut. Wir müssen da sein für die Menschen, vor allem für die Schwächsten, für die Bedürftigsten, für die Vernachlässigten, für all diese Menschen, die Wunden mit sich tragen. Weil solche Übergriffe hinterlassen Wunden, ein Leben lang.
Die Kirche hat jahrzehntelang Täter- statt Opferschutz betrieben und Fälle systematisch vertuscht. Was machen Sie jetzt ganz konkret für die Opfer?
Wir haben konkrete Massnahmen beschlossen. Erstens wird eine schweizweite unabhängige Meldestelle professionell eingerichtet, damit Opfer sich mühelos melden können und dort betreut, begleitet und unterstützt werden.
Die Zulassungsbedingungen für jene, die später in der Seelsorge wirken möchten, werden sehr streng.
Zweitens werden die Zulassungsbedingungen für jene, die später in der Seelsorge wirken möchten, sehr streng. Wir werden für die ganze Schweiz Standards für psychologische Tests festlegen. Wir werden die Personaldossiers professionalisieren, damit alles, was zu den Akten von den Wirkenden in der Kirche festgehalten wird und nichts verloren geht. Wenn die Leute die Stelle zwischen Bistümern wechseln, sollen ihre Dossiers weitergegeben werden können. Zudem werden wir verhindern und verbieten, dass Akten aus den Archiven vernichtet werden. Das wurde bereits umgesetzt.
Es wird also vor allem Prävention gemacht. Aktuell stehen aber mehrere amtierende Bischöfe in der Kritik. Sie sind jetzt als Bischof beauftragt, diese Fälle zu prüfen. Sollte das nicht eine externe Person machen?
Es wäre ideal, wenn das eine unabhängige Person tun würde. Gegenwärtig ist das aber nicht möglich, weil die Gesetzesbestimmungen von 2019 vorsehen, dass dies ein Bischof des Landes macht. Nur aus diesem Grund habe ich sehr ungern den Auftrag angenommen. Ich habe ihn aber mit der Entschlossenheit angenommen, mich von niemandem beeinflussen zu lassen. Ich werde restlos sachgerecht alle Fakten, Akten studieren, Gespräche und Befragungen durchführen und das Ganze am Schluss in einem Bericht festhalten und diesen nach Rom schicken.
Das Gespräch führte Bigna Silberschmidt