«Von 20 Personen, die Opioide konsumiert haben, ist mittlerweile eine clean. Die anderen 19 sind alle abhängig.» Laurin knetet unruhig seine Finger. Sein Blick huscht beim Sprechen nervös umher.
Im Alter von 14 Jahren bestellt er seine erste Oxycontin-Tablette im Darknet. Sie enthält Oxycodon, einen opioidhaltigen Wirkstoff. Die Pille zählt zu den stärksten Schmerzmitteln, die auf dem Markt erhältlich sind. Er zermörsert die Pille und schnupft sie: «Ein überwältigendes Gefühl der Euphorie», wie er heute sagt. Laurin beginnt regelmässig zu konsumieren, erst nur am Wochenende, dann häufiger. Als er nach den Schulferien zurück im Schulzimmer des Gymnasiums sitzt, hat er körperliche Entzugserscheinungen. Der Beginn eines Teufelskreises, den lange niemand bemerkt.
Heute, mit 21 Jahren, ist Laurin zwar in Behandlung, die Opioidabhängigkeit begleitet ihn aber immer noch.
Vom Experiment zur Abhängigkeit
Laurin ist kein Einzelfall: Jugendliche und junge Erwachsene greifen heute häufiger zu opioidhaltigen Schmerzmitteln. Und die Zahl der jungen Abhängigen steigt. Das zeigen neue Auswertungen der Arud, dem grössten Zentrum für Suchtmedizin der Schweiz.
Wir sehen eine vier- bis sechsfache Zunahme von Opioidabhängigen unter 25 Jahren.
«Wir haben eine interne Auswertung gemacht der letzten zehn Jahre, wie viele neue Menschen sich bei uns wegen einer Opioidabhängigkeit melden», sagt Thilo Beck, Co-Chefpsychiater der Arud. «In den letzten fünf Jahren zeigt sich plötzlich eine dramatische Zunahme von jungen Menschen unter 25 und unter 20 Jahren.» Die Auswertung habe eine vier- bis sechsfache Zunahme von Opioidabhängigen in diesen Altersgruppen ergeben.
Dieser Trend sei neu, sagt Beck. Bisher waren die Menschen mit einer Opioidabhängigkeit bei der Arud als eine Gruppe älterer Konsumierender zu verorten, die mit Heroin in den 1990er-Jahren zu Platzspitzzeiten begonnen hatten. «Die jungen Konsumentinnen und Konsumenten kommen auf eine andere Weise damit in Berührung. Sie greifen als Erstes zu opioidhaltigen Schmerzmitteln», führt der Psychiater aus.
Es sind oft sehr beeindruckende Fälle schwerkranker Patienten.
Auch andere psychiatrische Institutionen in der Schweiz bemerken eine Häufung von Opioidabhängigkeiten in dieser Altersgruppe. «Wir sehen ganz klar eine Steigerung bei jüngeren Patienten, die Opioide primär nutzen, um sich zu berauschen», sagt Marc Vogel, Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel. Sie würden zwar nicht überrannt, so Vogel, «es sind aber oft sehr beeindruckende Fälle schwerkranker Patienten.»
Die Schwere - und vor allem das junge Alter - gewisser Fälle beunruhigt auch Elvira Tini, Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) in Zürich. «Im Jahr 2022 hatten wir mindestens zwei Fälle von unter 16-Jährigen. Diese haben uns zu denken gegeben.» So junge Menschen mit einer starken Opioidabhängigkeit seien zuvor nicht bei ihnen behandelt worden. Das KJPP hat deshalb eine kleine Taskforce innerhalb der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gegründet, um auf die komplexen Abhängigkeiten der Jugendlichen vorbereitet zu sein.
Je jünger die Jugendlichen seien, desto unerfahrener und entsprechend labiler seien ihre Patientinnen und Patienten. «Die Jugendlichen experimentieren mit starken Schmerz- und Hustenmitteln, es ist ein Ausprobieren», sagt Elvira Tini. Und ist die Neugier erst einmal da, ist es nicht schwer, opioidhaltige Schmerzmittel zu erwerben, zeigt der Versuch von SRF Investigativ.
Einen Klick von der Pille entfernt
Wie Laurin bestellt heute laut einer Umfrage des Drogeninformationszentrums Zürich (DIZ) jeder achte Konsumierende Drogen im Internet. Die Dealer werben mit einem breiten Angebot auf den entsprechenden Chatgruppen und Marktplätzen.
Auf verschiedenen Plattformen im Darknet werden starke Schmerzmittel wie Oxycodon verkauft. Man findet daneben auch schwächere Opioide wie Codein-Hustensirup und Tramadol. Es gibt Verkäufer, welche die Medikamente innerhalb der Schweiz ausliefern. Damit entfällt das Risiko, dass die Schmerzmittel vom Zoll abgefangen werden. Auch auf Telegram und Signal, verschlüsselte Messengerdiensten, findet man diverse Shops, die Opioide verkaufen.
Um herauszufinden, wie leicht erhältlich und wie rein die opioidhaltigen Schmerzmittel aus dem Darknet sind, bestellte SRF Investigativ drei Proben in Kleinstmengen: eine Oxycodon-Pille, Morphin und Methadon. Anschliessend wurden die Proben im Labor auf die enthaltenen Wirkstoffe getestet. Es kamen jedoch nicht alle Bestellungen an: Weitere Deals über Telegram platzten - es steckten Betrüger dahinter.
Der Test macht deutlich: Opioidhaltige Schmerzmittel zu bestellen ist einfach, wenn man die entsprechenden Kanäle kennt. Bei Angeboten auf Messengerdiensten, bei denen man im Voraus bezahlen muss, besteht eine gewisse Betrugsgefahr. Die von SRF Investigativ bestellten Substanzen aus dem Darknet waren jedoch rein und richtig deklariert.
Schmerzmittel statt Speed
Doch nicht nur die einfache Verfügbarkeit und Neugier sind Treiber des neuen Opioid-Trends bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Viele würden auch zu Opioiden greifen, um seelische Schmerzen zu lindern. «Die letzten Jahre waren besonders schwierig für die Jugendlichen», sagt Elvira Tini vom KJPD.
Dass es den Jungen in der Schweiz schlechter geht, hält auch Psychiater Thilo Beck für einen naheliegenden Grund, warum junge Menschen öfter zu Opioiden greifen. «Viele Studien zeigen, dass sich der Gesundheitszustand von jungen Menschen verschlechtert hat. Die Jungen fangen an, sich mit Medikamentenversuchen besser einzustellen, auszuhalten, was sie erleben», sagt Beck.
Generationenübergreifend wird seit jeher in der Adoleszenz mit Drogen und Substanzen experimentiert. Griffen die jungen Erwachsenen aber in den 1970er-Jahren tendenziell eher zu psychedelischen Drogen wie LSD und in den Nullerjahren zu leistungssteigernden Amphetaminen und Kokain, ist der Drogenmix der Wahl heutzutage ein betäubender. «Wir sehen bei den Jungen einen Trend in Richtung Leistungsverweigerung», sagt Beck. Aufputschende Stimulanzien weichen sedierenden, beruhigenden und angstlösenden Medikamenten für erste Rauscherfahrungen.
Opioid-Verkäufe in der Schweiz stark gestiegen
Opioide werden in der Schweiz aber nicht nur zu Rauschzwecken häufiger verwendet. In 20 Jahren haben hierzulande die Verkäufe von Opioiden für den medizinischen Gebrauch, besonders von hochpotenten Opioiden, stark zugenommen. Heute werden gesamthaft über sechsmal mehr Packungen starker Opioide ausgegeben als noch im Jahr 2000. Zählt man auch die schwachen Opioide dazu, haben sich die Verkaufszahlen der verkauften Einheiten pro 100'000 Einwohner fast verdoppelt, kommt eine Studie der ETH Zürich zum Schluss.
In der Medizin werden Opioide insbesondere bei akuten und chronischen Schmerzen, zum Beispiel in der Notfallmedizin und bei Krebserkrankungen, eingesetzt. Opioidhaltige Schmerzmittel sind in der Schweiz dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. Ärztinnen und Ärzte sowie Apotheken müssen über deren Ausgabe Buch führen.
Wie viele Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten durch eine medizinische Behandlung mit Opioiden abhängig werden, ist zurzeit unklar. Die Stiftung Sucht Schweiz hält im Suchtpanorama 2023 fest: «Bei den opioidhaltigen Schmerzmitteln fehlen aktuelle Zahlen zur Einnahme oder gar zu Abhängigkeit.» Es brauche dringend eine engere epidemiologische Überwachung des Konsums und mehr Forschung.
Der lange Schatten der Abhängigkeit
Ob durch ein verschriebenes Rezept oder durch den Konsum als Rauschmittel: Geschichten wie Laurins veranschaulichen, wie schwierig es sein kann, sich dem Sog einer Opioidabhängigkeit zu entziehen. Er träumt von einem Leben ohne Opioide. Dort angekommen, ist er noch nicht.
Ob Laurin rückblickend nochmals Oxycodon nehmen würde? Er unterdrückt ein Lachen. «Gute Frage. Mit all den Konsequenzen, die ich gehabt habe: Nein, definitiv nein. Ich würde es nicht nochmals nehmen», sagt Laurin und schüttelt den Kopf. Den Blick hält er fest auf seine Hände gerichtet.