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Missstände in Pflegehaus Heim für autistische Menschen mit Gewaltvorwürfen konfrontiert

Auch personelle Probleme überschatten die vorzeitige Schliessung der Chasa Flurina im Engadin.

Missstände bei der Betreuung schwerer Autisten sorgten in der Schweiz zuletzt im Genfer Heim Mancy für Schlagzeilen. Jugendlichen wurde das Essen vorenthalten, zudem wurden sie am Boden entlang geschleift.

Nun zeigen Recherchen von Radio SRF, dass auch die Chasa Flurina im Kanton Graubünden mit Vorwürfen von Gewalt gegen Heimbewohner konfrontiert ist.

Untersuchungen laufen noch

Ein Zitat aus einem Arztbericht über einen Pflegefall in der Chasa Flurina: «Blutergüsse am rechten Arm, die dem Griff einer fremden Hand entsprechen. Ein weiteres Hämatom am linken Arm.»

Die Eltern hatten ihren Sohn in einer Klinik im Kanton Zürich untersuchen lassen, weil sie den schwer autistischen jungen Mann im vergangenen Herbst in einer «unzumutbaren Verfassung» aufgefunden hatten. Er hatte massiv an Gewicht verloren und wirkte leer und traurig. Das steht in Unterlagen der Familie, die Radio SRF namentlich bekannt ist. Öffentlich will sie sich aber nicht äussern.

Wir gehen unangemeldet bei den Organisationen vorbei, führen Gespräche und fordern Unterlagen ein.
Autor: Susanna Gadient Vorsteherin Bündner Sozialamt

Was war passiert im Heim im Engadin? Weil die Heimleitung darauf keine zufriedenstellende Antwort gab, nahm die Familie den schwer autistischen Sohn im Oktober 2021 sofort nach Hause und alarmierte das Sozialamt des Kantons Graubünden.

Eine Antwort gibt es bislang aber immer noch nicht. Susanna Gadient, Vorsteherin des Bündner Sozialamts, bestätigt aber, dass die Vorwürfe abgeklärt werden: «Wir gehen dafür unangemeldet bei den Organisationen vorbei, führen Gespräche und fordern Unterlagen ein. Im aktuellen Fall liegen die Ergebnisse noch nicht vor, weshalb noch keine weiteren Angaben möglich sind.»

Weiterer Vorfall in der Chasa Flurina 

Die Chasa Flurina betreut unterdessen weiterhin Autisten. Zu den Vorwürfen der Familie teilt Claudio Wolfer, Präsident des Trägervereins der Chasa Flurina, Radio SRF schriftlich mit, dass er zu Einzelfällen keine konkrete Auskunft geben dürfe. Die Abklärungen des Sozialamtes hätten noch nicht abgeschlossen werden können.

Das ist aber nicht alles: Anfang Juli rissen zwei Autisten aus dem Heim aus. Einer von ihnen wurde erst mitten in der Nacht 500 Höhenmeter oberhalb des Hauses gefunden – nach einer Suchaktion mithilfe eines Helikopters. «Eine solche Suchaktion durchaus ist ein ausserordentliches Vorkommnis, das wir nicht auf die leichte Schulter nehmen», so Gadient vom Sozialamt.

Probleme bei Leitungsübergabe

In der Chasa Flurina begann Ueli Hintermann 1982 mit der Betreuung von Menschen mit Autismus. Das Heim etablierte sich in jahrzehntelanger Arbeit. Es hätte sich aber im vergangenen Jahr erneuern sollen. Zwei Mitarbeiter waren für die Nachfolge von Hintermann vorgesehen.

Statt zu einer Stabübergabe kam es jedoch zum Streit. Die beiden Mitarbeiter verliessen die Chasa Flurina, neue Nachfolger wurden nicht gefunden. Das stellte eine erneute Bewilligung für das Heim infrage. Die Heimleitung entschied deshalb am 2. Juni, den Betrieb einzustellen und plante diesen Schritt per Ende 2023. Nach Gesprächen mit dem Sozialamt wird das Heim nun aber bereits per Ende 2022 geschlossen.

Autismus-Organisation: «Platzmangel ist dramatisch»

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Regula Buehler, Geschäftsleiterin der Non-Profit-Organisation Autismus Deutsche Schweiz, bestätigt: «Die Beratungsstelle hört sehr oft, dass es schwierig ist, für jemanden im Autismus-Spektrum einen Platz zu finden. Vor allem Eltern von erwachsenen Betroffenen suchen sehr lange und müssen verschiedene Möglichkeiten ausprobieren, bevor es dann eventuell irgendwo klappt.»

Auch der Bundesrat räumte in seinem vor vier Jahren zu Autismus veröffentlichten Bericht einen Mangel an Heimplätzen und Fachpersonal ein. Und das, obwohl die Zahl der wegen Autismus von der IV unterstützten Personen in der Schweiz in den letzten Jahren stets gestiegen ist, wie Zahlen des Bundesamts für Sozialversicherung zeigen.

Der Bericht hätte Anstoss zu Veränderungen geben sollen. Ist die Lage heute besser? «Da muss ich leider mit einem ganz klaren Nein antworten. Der Bericht des Bundesrats enthielt nur Empfehlungen an die Kantone, aber keine Verpflichtungen. So hat sich in den letzten vier Jahren nur sehr wenig verändert und die Situation von Menschen mit Autismus und ihren Familien ist immer noch dramatisch», sagt Buehler.

Die Familie des Autisten, welche die Beschwerde mit Verdacht auf Gewaltanwendung eingereicht hat, erwartet vom Kanton Graubünden Antworten. Für ihren Sohn hat sie inzwischen einen neuen Platz gefunden. Das war schwierig, denn Betreuungsplätze gibt es wenige – auch deshalb fühlte sich die Familie von der Chasa Flurina abhängig.

Info 3, 02.08.2022, 12:00 Uhr

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