Im Jahr 2020 stach eine psychisch kranke 28-Jährige in einem Einkaufsgeschäft in Lugano mit einem Brotmesser auf zwei Kundinnen ein und rief «Allahu akbar». Die Strafkammer des Bundesstrafgerichts in Bellinzona verurteilte sie wegen versuchten Mordes zu neun Jahren Gefängnis. Die Berufungskammer erhöhte die Strafe auf 10 Jahre und 6 Monate, weil es in der Tat nicht nur einen versuchten Mord, sondern auch einen Terroranschlag sah. Nun bestätigt das Bundesgericht dieses Urteil. SRF-Gerichtskorrespondentin Sibilla Bondolfi ordnet das Urteil ein.
Warum ist das Urteil wegweisend?
Das Bundesgericht hat in einem Leitentscheid klargestellt, dass ein dschihadistischer Attentäter für die gleiche Tat sowohl wegen Mordes als auch wegen Terrorunterstützung bestraft werden kann. Dadurch erhöht sich die Strafe.
Warum kann jemand für die gleiche Tat «doppelt» bestraft werden?
Wenn jemand mit der gleichen Handlung verschiedene Tatbestände erfüllt, gibt es zwei Möglichkeiten: Schützen die Tatbestände das gleiche Rechtsgut, reicht der schlimmste Tatbestand. Ein Beispiel: Ein Mörder wird «nur» wegen Mordes verurteilt, nicht zusätzlich wegen Körperverletzung, auch wenn der tödliche Schuss das Opfer natürlich verletzt hat.
Geht es bei den Tatbeständen hingegen um unterschiedliche Rechtsgüter, können beide berücksichtigt werden. In unserem Beispiel: Stiehlt der Mörder seinem Opfer auch noch Geld, dann wird er zusätzlich wegen Diebstahls bestraft. Denn im Unterschied zur Körperverletzung ist der Diebstahl nicht typischerweise in einer Tötung mitenthalten.
Inwiefern ist das Urteil ein Sieg für die Bundesanwaltschaft?
Die Bundesanwaltschaft wollte mit einem Musterprozess die Frage klären, wie die Delikte «Terrorunterstützung» und «Mord» zueinander stehen. Sie ist der Ansicht, der Tatbestand «Mord» schütze das Leben und der Tatbestand «Terrorunterstützung» die öffentliche Sicherheit. Deshalb trete keiner hinter den anderen zurück. Jetzt ist das oberste Gericht der Argumentation der Bundesanwaltschaft gefolgt.
Was bedeutet das Urteil für zukünftige Fälle?
Der Leitentscheid bedeutet, dass es zukünftig für dschihadistisch motivierte Messerstechereien härtere Strafen geben dürfte als für «normale» Messerstechereien. Denn im Unterschied zu einem «gewöhnlichen» Messerstecher, der zum Beispiel aus Eifersucht seinen Kontrahenten niederstreckt oder im Streit zum Messer greift, wollen Attentäter eine Terrororganisation unterstützen, die in der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreitet. Das ist zusätzlich strafwürdig.