«Das Wort ‹selten› verliert jede Bedeutung, wenn es das eigene Kind trifft», sagt Beat Wüthrich aus Matt (GL). Sein 8-jähriger Sohn schwebte im November in Lebensgefahr – als Spätfolge einer Coronainfektion. «Er hatte hohes Fieber, war immer müde, musste erbrechen. Seine Lippen und Augen wurden tiefrot», erzählt Mutter Jayne Wüthrich. Nach dem Gang ins Spital wird bald klar: Auch dem Herz geht es nicht gut.
Mit dem Helikopter muss der Junge auf die Intensivstation des Kinderspitals Zürich geflogen werden. Dort bestätigt ein Antikörpertest den Verdacht der Ärztinnen: Eine unerkannte Corona-Infektion zwei Wochen zuvor war wohl Auslöserin der Krankheit. Diagnose: Pädiatrische Immunologische Multisystem-Erkrankung, kurz Pims.
Neu, rätselhaft – und lebensgefährlich
Bei Pims handelt es sich um eine überschiessende Reaktion der körpereigenen Abwehrkräfte auf ein eigentlich schon besiegtes Virus. Vom Herz über die Haut bis zum Gehirn können diverse Organe betroffen sein. Das Phänomen ist neu und wurde erstmals während der ersten Corona-Welle in Grossbritannien und den USA dokumentiert.
Der Zusammenhang mit Corona ist noch nicht endgültig belegt, aber sehr wahrscheinlich. Das sagt Immunologin Jana Pachlopnik, die am Kinderspital Zürich zum Thema forscht. «Wir glauben, dass eine Kombination aus drei Faktoren zu dieser Überreaktion führt: das Virus, genetische Faktoren und das sich noch entwickelnde Immunsystem von Kindern.»
Über 60 Fälle in der Schweiz
Pims ist nun auch endgültig in der Schweiz angekommen, wie SRF-Recherchen zeigen. Laut dem Kinderspital Zürich haben die Pims-Fälle in der zweiten Welle deutlich zugenommen – analog zu den Corona-Infektionen. Bisher gab es landesweit über 60 Fälle eines solchen Multi-Organversagens, die meisten in den letzten Wochen.
Nationale Richtlinien der Kinderspitäler
Betroffen sind Kinder zwischen sechs und 16 Jahren, Jungen häufiger als Mädchen. Wenn der Verlauf der Corona-Pandemie sich fortsetze wie bisher, müsse nächstes Jahr mit etwa 100 Pims-Fällen gerechnet werden, so die Schätzung des Spitals. Gemessen an der Schwere der Krankheit sind das viele – gemessen an den bisher fast 40'000 bestätigten Coronafällen unter Kindern und Jugendlichen sind es wenige.
Deshalb brauche es auch keine Anpassung der Corona-Richtlinien, findet Christoph Berger von der Science-Taskforce des Bundes. «Es ist wichtig, dass wir Kinder mit Pims erkennen und richtig behandeln. Kinder sind aber insgesamt von Corona wenig betroffen und sollen deshalb weiterhin in die Schule.»
«Traumatisches Erlebnis»
Wer hingegen reagiert, sind die Intensivstationen der Kinderspitäler. Sie wollen, dass betroffene Kinder schnell erkannt und richtig behandelt werden. Deshalb haben sie Richtlinien für den Umgang mit Pims erarbeitet, die heute erscheinen. Sie sollen sicherstellen, dass in der Schweiz – anders als in anderen Ländern – weiterhin kein Kind an der Krankheit stirbt.
Auch beim Sohn von Beat und Jayne Wüthrich schlägt die gezielte Behandlung an. Nach vier Tagen auf der Intensivstation kann er verlegt, nach weiteren sechs entlassen werden. «Es war ein traumatisches Erlebnis», sagt der Vater, «aber gleichzeitig auch ein schönes – wegen der grossen Hingabe und Kompetenz der Ärztinnen und des Pflegepersonals.»