Hans-Peter Rüdisüli blinzelt in die Sonne – genauer gegen den grossen metallenen Reif, der etwas am Rande des Turbinenplatzes am Escher-Wyss-Platz in der Stadt Zürich in fünf Metern Höhe angebracht ist. Normalerweise sprüht aus den feinen Düsen Wasser, daraus bildet sich eine kleine Nebelwolke, welche für Abkühlung sorgen soll.
Denn auf diesem betonierten Platz wird es im Sommer unerträglich heiss. Mit dieser Nebelwolke will die Stadt etwas zur Hitzeminderung beitragen. Landschaftsarchitekt Rüdisüli hält von der Idee wenig: «Man hätte lieber zehn Bäume gepflanzt, die wären langlebiger als diese Nebelwolke.»
Wahrscheinlich hätte es sogar mehr als zehn Bäume gegeben. Denn die Installation kostet rund 140'000 Franken. Für Rüdisüli ist dieses Vorgehen für die Stadt typisch. Alibipolitik.
Rüdisüli war von 1982 bis 1989 selbst bei der Stadt Zürich angestellt und hat in deren Auftrag das erste Freiraumkonzept der Schweiz erarbeitet. Darin wurde aufgezeigt, wie man mit Bäumen, Durchlüftungskorridore, der Freilegung von Bächen etc. die Stadt kühlen kann. Nur sei bisher kaum was davon umgesetzt worden, bedauert Rüdisüli, der heute als selbständiger Landschaftsarchitekt tätig ist.
EVP-Stadtrat als Pionier
Besonders enttäuscht ist Rüdisüli von «seinen Genossen», wie er die links dominierte Stadtregierung und das Parlament nennt. «Meine Genossinnen und Genossen haben immer gesagt, wir machen das schon gut. Aber konkret passierte nichts», so Rüdisüli. Vor allem seit den 1990er-Jahren seien immer die Finanzen im Vordergrund gestanden.
Rüdisüli ist überzeugt, früher – vor allem in den 1980er-Jahren – seien Politikerinnen und Politiker mutiger gewesen. Es sei ja bezeichnend, dass er damals diese Pioniertat mit dem Freiraumkonzept habe machen können. Er arbeitete im Departement des damaligen EVP-Stadtrates Ruedi Aeschbacher. Dieser förderte solche Konzepte und solches Denken und war deswegen nicht unumstritten.
Lieber mehr verwalden statt verwalten
Aeschbacher liess in Zürich Quartierstrassen sperren und baute auf den Strassen Hindernisse ein, damit die Autos abbremsen mussten. Auch dies war eine Pioniertat, welche ihm aus anderen Städten viel Lob einbrachte, aber in Zürich auch für viel Kritik sorgte.
Für Landschaftsarchitekt Rüdisüli ist die Zürcher Stadtregierung mutlos unterwegs. In den entsprechenden Konzepten stehe viel Schönes und Gutes, aber in der entsprechenden Umsetzung gehe wenig.
Sein Motto sei deshalb immer, man solle mehr verwalden statt verwalten, meint Rüdisüli und schmunzelt dabei.
Stadt lässt Kritik nicht gelten
Bei der Stadt Zürich will man diese Kritik so nicht stehen lassen. Christine Bächtiger ist Umweltwissenschaftlerin und ist beim städtischen Gesundheitsdepartement zuständig für die Hitzeminderung in der Stadt. Man habe mittlerweile viele Pilotprojekte und Sofortmassnahmen umgesetzt, vor allem im Gebiet Zürich-West, wo sich die Stadt besonders schnell aufheize.
Als eine Sofortmassnahme nennt Bächtiger diese Nebelwolke auf dem Turbinenplatz. Des Weiteren seien aber auch in diesem Jahr wieder zahlreiche neue Bäume gepflanzt worden. Die Kritik von Rüdisüli und anderen Landschaftsarchitekten und Experten, wonach die Stadt Zürich auch aktuell noch nicht immer so baut, wie es die Konzepte für das Stadtklima vorgeben, versteht Bächtiger. Dies liege an den langen Projektierungsphasen. «Was heute gebaut wird, wurde oft vor zehn Jahren geplant, als die neusten Bauvorgaben noch nicht galten», sagt Bächtiger.
In der Schweizer Politik ist es nahezu unmöglich, Visionen mehrheitsfähig zu machen.
Deshalb seien viele Projekte, die man heute sehe, noch nicht optimiert. Aber künftig werde das besser, verspricht Bächtiger. Nicht gelten lässt Bächtiger den Vorwurf, dass die Stadt Zürich in der Vergangenheit praktisch nichts gemacht habe wegen des Klimawandels. Es gebe ein Freiraumkonzept, ein Alleenkonzept, der Baumbestand auf städtischem Boden nehme zu. Die Schwierigkeit sieht Bächtiger bei den Privaten. Diesen könne man (noch) nicht vorschreiben, dass sie beispielsweise einen Baum nicht fällen dürften, dazu fehle noch die gesetzliche Grundlage.
Schweizer Politik ist auf Kompromiss ausgerichtet
Zürich ist kein Einzelfall, gerade wenn es um die Klimapolitik geht. Die Antwort auf die Frage, weshalb Politik immer erst reagiere, wenn es brenne, sei in unserem System zu finden, der direkten Demokratie, sagt Politikwissenschafterin Karin Ingold.
In der Schweiz sei man es gewohnt, dass die verschiedenen Parteien Kompromisse finden würden. Das verzögere vieles, so Ingold. Für die einen brenne etwas bereits, für andere sei das Problem noch nicht akut. Bereits in der Problemwahrnehmung liege das Problem, meint die Professorin.
Das heisse aber nicht, dass die Politik immer zu spät reagiere. Gerade wenn es um Krisenmanagement, Notfallpläne bei Katastrophen etc. gehe, sei die Schweiz vorbildlich vorbereitet. Aber das seien Konzepte um zu reagieren, beim Agieren da täte sich die Politik schwerer. Nahezu unmöglich sei es, Visionen mehrheitsfähig zu machen, meint Ingold.
Die Professorin gibt Rüdisüli insofern recht, als sie auch glaubt, dass die Politik gegenüber früheren Jahren mutloser geworden ist. Man habe heute mehr Angst vor Blockaden und Konflikten. Dies führe dazu, dass die Politik kaum mehr innovative Lösungen hervorbringe, sondern lediglich noch die zweit- oder drittbeste Lösung Erfolg habe.
Corona-Krise nicht mit Klimakrise vergleichbar
Erstaunlich schnell hat die Politik hingegen bei der Corona-Pandemie reagiert. Der Bundesrat riss quasi über Nacht die Führung und zu grossen Teilen auch die Macht an sich und hebelte teilweise die direkte Demokratie aus.
Für Karin Ingold ist die Corona-Pandemie aber nicht mit der Klimakrise vergleichbar. Bei Corona sei die Bevölkerung unmittelbar vom Virus betroffen gewesen, zudem habe auch die Solidarität eine Rolle gespielt. «Vom Klimawandel ist man offensichtlich noch zu wenig betroffen, zudem ist der Solidaritätsgedanke weniger relevant», sagt Ingold.
Ist die Demokratie noch die richtige Regierungsform, um in den jüngsten Krisen zu reagieren? Karin Ingold ist der Überzeugung, Ja. Bisher habe noch keine Autokratie oder Diktatur bessere und schnellere Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel präsentiert, meint die Politikwissenschaftlerin. Sie schlägt aber drei Wege vor, wie Demokratien effektiver auf drastische und langfristige Veränderungen, wie die Klimakrise reagieren könnten.
1. längere Wahlzyklen
Meistens gilt in Demokratien – nach den Wahlen ist vor den Wahlen. In der Regel wählen wir in der Schweiz (und auch in den meisten anderen demokratischen Ländern) alle vier oder fünf Jahre Parlament und Regierung. Ingold schlägt vor, dass man in längeren Abständen wählt, zum Beispiel alle sieben, zehn oder gar zwölf Jahre. Somit könnten sich Politikerinnen und Politiker ihre Schwerpunkte von der Wahlkampfarbeit auf die politische Arbeit verlagern. Gerade schwierige Themen wie der Klimawandel könnten so effektiver angegangen werden, ist Ingold überzeugt.
Demokratie in Zeiten der Krise
2. mehr Partizipation der gesamten Bevölkerung
Eine andere Möglichkeit wäre, die Mitbestimmung bei politischen Prozessen auszuweiten. Zum einen wäre da die Senkung des Stimm- und Wahlrechts auf 16 Jahre und die Einführung des Ausländerstimmrechts.
Ingold schlägt aber vor, dass diese Partizipation noch weitergehen soll. So sollen lokale, betroffene und besorgte Privatpersonen in die politischen Prozesse miteinbezogen werden, indem sogenannte Bürgerräte gebildet werden. Diese Gremien könnten Lösungsansätze einbringen und würden so in der Umsetzung wohl auch eine grössere Akzeptanz erreichen.
3. mehr Einfluss wissenschaftlicher Expertenräte
Als dritte Möglichkeit, um die Demokratie krisenfester zu machen, schlägt Ingold vor, langfristige Expertenräte einzusetzen. Die Corona-Krise habe gezeigt, dass diese wissenschaftlichen Task-Forces die Legitimität sowie die Qualität der eingeführten Lösungen fördern könnten. Im Gegensatz zur Corona-Pandemie müssten diese Wissenschafter aber nicht nur beratende Funktion haben, empfiehlt Ingold, sondern wirklich auch verbindlich Einfluss auf politische Lösungen nehmen können, gerade beim Thema Klimawandel.
Bei allen Defiziten, welche man der Demokratie ankreiden kann – es gibt keine bessere Alternative.
«Demokratische Entscheide werden von der Mehrheit mitgetragen. Das ist der grosse Vorteil», sagt Ingold. Bei allen Defiziten, welche man der Demokratie ankreiden könne, gäbe es keine bessere Alternative. Denn auch wenn eine Lösung noch so schwach sei, sei sie immer von der Mehrheit der stimmenden Bevölkerung abgesegnet. Ingold wünschte sich aber, dass die Schweizer Demokratie etwas innovativer wird. Indem man eben mit mehr Bürgerräten oder auch lokalen Pilotprojekten arbeiten würde.
Es drohen weitere Hitze-Inseln in Zürich
Auch Landschaftsarchitekt Hans-Peter Rüdisüli ist Demokrat durch und durch. Dennoch ist er pessimistisch, was die Siedlungspolitik der Stadt Zürich betrifft. Denn Zürich werde in den nächsten Jahren weiter stark wachsen, der Druck, Aussenquartiere zu verdichten, sei immens.
Sollte die Stadt nicht wirklich ernst machen, mit mehr Grün und weniger Versiegelung, um das Mikroklima zu beeinflussen, dann entstünden die nächsten Hitze-Inseln in Altstetten, Schwamendingen und Seebach. Es brauche jetzt wirklich Leute, die hinstehen und für mehr Grün kämpfen würden, so Rüdisüli.
Diese Leute brauche es im Parlament, in der Regierung, aber auch in der Verwaltung. Eben mehr «verwalden statt verwalten», meint Rüdisüli und seufzt leise.