Der erste LSD-Trip des Sandoz-Forschers Albert Hoffmann von 1943 führte später zur Nutzung jenes Mutterkorn-Wirkstoffes als Hippie-Droge. Den Grundstein dafür gelegt hatte zwei Dekaden davor Arthur Stoll: Diesen Münchner Professor hatte Sandoz nach Basel geholt, um eine Pharma-Abteilung aufzubauen. Er bekam nicht nur das Mutterkorn in den Griff, sondern brachte auch technische Innovation in die Basler Pharmaindustrie.
Rund hundert Jahre später hat sich der Mikrobiologe Frank Petersen auf eine kulturhistorische Spurensuche zum Mutterkorn gemacht – für ein Buch. «Es gibt kaum einen Pilz, der kulturell und wissenschaftlich so eine Bedeutung hatte», sagt der langjährige Leiter der Novartis Naturstoffforschung.
Mutterkorn ist überall in der Natur vorhanden, befällt aber nur Gräser. Das wurde für Menschen zum Problem, seit man manche Gräser als Nahrungsmittel nutzt: in Zuchtformen als Getreide. Speziell anfällig ist der Roggen.
Erstmals beschrieben wurden Auswirkungen des Mutterkorns im 9. Jahrhundert. Damals erkannte man den Auslöser noch nicht und sprach von einer Geissel Gottes. Vergiftungswellen traten typischerweise nach der Ernte auf und hielten etwa vier Monate an.
Grund war, dass der ungereinigte Roggen, also solcher mit dem Pilz, gemahlen und daraus Brot gebacken wurde. Die chronischen Vergiftungen trafen meist arme Leute, weil reichere statt Roggen mehr Weizen verspeisten, der weniger anfällig ist.
Folge waren zwei Verlaufsformen von Ergotismus: Geschwüre am ganzen Körper und absterbende Extremitäten, etwa Nase oder Hände, oder schwere Krämpfe bis hin zu Erstickungssymptomen. «Das waren entsetzliche Symptome, welche die Leute durchstehen mussten in diesen Monaten im Mittelalter», sagt Petersen.
Als Heilmittel wurde Mutterkorn unwissentlich bereits früh in China und Griechenland eingesetzt. In Europa war das vom 15. Jahrhundert an der Fall, in der Geburtshilfe und der Gynäkologie. Als toxisch erkannt wurde der Pilz erst Ende des 17. Jahrhunderts, und gezielt applizierten ihn Ärzte ab Ende des 18. Jahrhunderts. Knackpunkt war die Dosierung, die erst mit der Reinsubstanz genauer möglich wurde.
Hier spielte Arthur Stoll eine Hauptrolle: Ein Jahr in Basel bei Sandoz, gelang ihm als erstem Forscher, eine Reinsubstanz aus dem Mutterkorn zu isolieren. Drei Jahre danach kam damit 1921 das Sandoz-Medikament Gynergen gegen Nachgeburtsblutungen heraus. Vor ihm waren 70 Jahre Mutterkorn-Forschungen ergebnislos geblieben.
Es war der Big Bang der Pharma-Forschung in Basel.
Die lokale Konkurrenz produzierte damals zwar schon Pharmazeutika, aber nichts Innovatives, sondern eher Derivate der Volksheilkunde – oder Kopien von Innovationen deutscher Firmen, erklärt Petersen. «Es war letzten Endes der Big Bang der innovationsgetriebenen pharmazeutischen Forschung hier in Basel.»
Kommerziell indes schlug Gynergen erst später ein, als erkannt wurde, dass es auch gegen Migräne wirkt. Sandoz züchtete Mutterkorn selber – im Baselbiet, dem Jura und Graubünden bis im Emmental – und konnte so auch während des Zweiten Weltkriegs produzieren.
Heute ist Sandoz nur noch der Name einer Generika-Firma: Diese wurde aus dem Novartis-Konzern abgespaltet, der aus der Fusion von Ciba Geigy und Sandoz entstanden war.