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Mutterkorn Vom Killerpilz zum Pharmagrundstein – Wende vor 100 Jahren

LSD machte den Mutterkorn-Pilz weltberühmt. In den 1920er-Jahren stand er am Wendepunkt der Basler Pharmageschichte.

Der erste LSD-Trip des Sandoz-Forschers Albert Hoffmann von 1943 führte später zur Nutzung jenes Mutterkorn-Wirkstoffes als Hippie-Droge. Den Grundstein dafür gelegt hatte zwei Dekaden davor Arthur Stoll: Diesen Münchner Professor hatte Sandoz nach Basel geholt, um eine Pharma-Abteilung aufzubauen. Er bekam nicht nur das Mutterkorn in den Griff, sondern brachte auch technische Innovation in die Basler Pharmaindustrie.

Peterson auf Bild
Legende: Buchautor und Mikrobiologe Frank Petersen: «Kaum ein Pilz hatte kulturell und wissenschaftlich so eine grosse Bedeutung.» zvg, Novartis

Rund hundert Jahre später hat sich der Mikrobiologe Frank Petersen auf eine kulturhistorische Spurensuche zum Mutterkorn gemacht – für ein Buch. «Es gibt kaum einen Pilz, der kulturell und wissenschaftlich so eine Bedeutung hatte», sagt der langjährige Leiter der Novartis Naturstoffforschung.

Vom Mutterkorn zum LSD: kein Zufall

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Der Schweizer Chemiker Albert Hofmann suchte 1943 bei Sandoz nach einem Mittel zur Kreislaufstabilisierung. Er kreierte mit einer Säure, die er aus dem Pilz Mutterkorn gewonnen hatte, Lysergsäurediethylamid, kurz LSD.

Zufällig aufgenommen löste dieses einen Trip aus, den er sehr positiv wahrnahm. Der Rest ist Geschichte. Sandoz brachte ein LSD-Psychopharmakon auf den Markt, doch die Drogenpolitik stand einem Erfolg im Weg.

Hoffmann wehrte sich dagegen, dass LSD als Zufallsfund erklärt wurde. Er hatte die halbsynthetische Verbindung gezielt hergestellt für eine medizinische Verwendung, also nicht einfach Mutterkorn probiert.

Mutterkorn ist überall in der Natur vorhanden, befällt aber nur Gräser. Das wurde für Menschen zum Problem, seit man manche Gräser als Nahrungsmittel nutzt: in Zuchtformen als Getreide. Speziell anfällig ist der Roggen.

Erstmals beschrieben wurden Auswirkungen des Mutterkorns im 9. Jahrhundert. Damals erkannte man den Auslöser noch nicht und sprach von einer Geissel Gottes. Vergiftungswellen traten typischerweise nach der Ernte auf und hielten etwa vier Monate an.

Mutterkorn-Pilz an Roggen-Ähre
Legende: Von Mutterkorn befallene Körner ragen aus der Roggen-Ähre schwarz hervor. IMAGO/Zoonar

Grund war, dass der ungereinigte Roggen, also solcher mit dem Pilz, gemahlen und daraus Brot gebacken wurde. Die chronischen Vergiftungen trafen meist arme Leute, weil reichere statt Roggen mehr Weizen verspeisten, der weniger anfällig ist.

Folge waren zwei Verlaufsformen von Ergotismus: Geschwüre am ganzen Körper und absterbende Extremitäten, etwa Nase oder Hände, oder schwere Krämpfe bis hin zu Erstickungssymptomen. «Das waren entsetzliche Symptome, welche die Leute durchstehen mussten in diesen Monaten im Mittelalter», sagt Petersen.

Ergotismus-Betroffene vor der Abtei von Saint Antoine
Legende: Mutterkorn war Ursache für Ergotismus, was zu Geschwüren und zum Absterben von Extremitäten führen konnte. Der Bildausschnitt um das Jahr 1900 zeigt Betroffene vor der Abtei von Saint Antoine. Wellcome Collection

Als Heilmittel wurde Mutterkorn unwissentlich bereits früh in China und Griechenland eingesetzt. In Europa war das vom 15. Jahrhundert an der Fall, in der Geburtshilfe und der Gynäkologie. Als toxisch erkannt wurde der Pilz erst Ende des 17. Jahrhunderts, und gezielt applizierten ihn Ärzte ab Ende des 18. Jahrhunderts. Knackpunkt war die Dosierung, die erst mit der Reinsubstanz genauer möglich wurde.

Stoll auf Bild
Legende: Spielte eine Schlüsselrolle bei der Erforschung des Mutterkorn-Pilzes: Der Schweizer Biochemiker Arthur Stoll (1887 – 1971) ZVG, Novartis

Hier spielte Arthur Stoll eine Hauptrolle: Ein Jahr in Basel bei Sandoz, gelang ihm als erstem Forscher, eine Reinsubstanz aus dem Mutterkorn zu isolieren. Drei Jahre danach kam damit 1921 das Sandoz-Medikament Gynergen gegen Nachgeburtsblutungen heraus. Vor ihm waren 70 Jahre Mutterkorn-Forschungen ergebnislos geblieben.

Es war der Big Bang der Pharma-Forschung in Basel.
Autor: Frank Petersen Ehem. Leiter der Novartis Naturstoffforschung

Die lokale Konkurrenz produzierte damals zwar schon Pharmazeutika, aber nichts Innovatives, sondern eher Derivate der Volksheilkunde – oder Kopien von Innovationen deutscher Firmen, erklärt Petersen. «Es war letzten Endes der Big Bang der innovationsgetriebenen pharmazeutischen Forschung hier in Basel.»

Kommerziell indes schlug Gynergen erst später ein, als erkannt wurde, dass es auch gegen Migräne wirkt. Sandoz züchtete Mutterkorn selber – im Baselbiet, dem Jura und Graubünden bis im Emmental – und konnte so auch während des Zweiten Weltkriegs produzieren.

Mutterkorn in Roggen-Ähre
Legende: Gift oder Medizin? Die Dosis macht's auch bei Mutterkorn-Wirkstoffen aus. Und: Diese ist nur mit präziser Herstellung präzise zu steuern. IMAGO / Panthermedia, Detlev Behrens

Heute ist Sandoz nur noch der Name einer Generika-Firma: Diese wurde aus dem Novartis-Konzern abgespaltet, der aus der Fusion von Ciba Geigy und Sandoz entstanden war.

In 1000 Jahren vom Giftpilz zum Medikament

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«Das Mysterium im Roggen. Mutterkorn und LSD – eine kulturhistorische Spurensuche» von Frank Petersen ist Mitte November im deutschen Springer-Verlag erschienen. Die nächste Lesung im Novartis-Pavillon am 16.1.2025 ist ausverkauft.

Frank Petersen studierte Biologie in Stuttgart-Hohenheim und Tübingen und ist langjähriger Leiter der Naturstoffforschung des Pharmaunternehmens Novartis AG in Basel.

Der international renommierte Wissenschaftler konzentriert sich in der Arzneimittelforschung auf die Entdeckung, Genetik und Herstellung neuartiger Wirkstoffe aus Pilzen, Bakterien und Pflanzen als mögliche neue Therapeutika.

Im Rahmen der Umsetzung der «Biodiversitätskonvention» beriet er unter anderem Arbeitskreise bei der Europäischen Union, dem Schweizer Parlament, der Welthandelsorganisation oder der Vereinten Nationen.

Regionaljournal Basel Baselland, 8.1.2025, 17:30 Uhr ; 

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