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Kaum noch Hilfe für viele Depressive
Aus 10 vor 10 vom 17.07.2017.
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Nach Bundesgerichtsentscheiden Depressive haben so gut wie keine Chance mehr auf IV

Mittelschwer Depressive erhalten in der Schweiz in jüngster Zeit kaum noch IV-Renten. Recherchen von «10vor10» zeigen: Die IV-Stellen lehnen mittelschwer Depressive offenbar fast durchs Band ab.

Das Bundesgericht habe neue Kriterien eingeführt, wie zahlreiche Anwälte und Rechtswissenschaftler gegenüber «10vor10» sagen. Ein Patient müsse nämlich in jüngster Zeit erst beweisen, dass er «therapieresistent» sei – und das sei quasi unmöglich.

«Klare Diskriminierung»

David Husmann hat vor kurzem einen Bundesgerichts-Entscheid im Fall einer Klientin erhalten, deren Tochter bei einem River-Rafting-Unfall während eines Schulausflugs gestorben ist. Danach fiel die Mutter in eine Depression. Sie ist seit Jahren in Therapie – und laut ihrem Psychiater teilweise arbeitsunfähig. Die IV und nun das Bundesgericht wiesen sie ab. Zentral sei dabei die Begründung, sie sei nicht «erwiesenermassen therapieresistent», sagt Husmann. Der Rechtsanwalt will den Entscheid nun nach Strassburg weiterziehen – vor den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Was das Bundesgericht da neu macht, ist eine klare Diskriminierung.
Autor: David Husmann Rechtsanwalt

«Was das Bundesgericht neu macht, ist eine klare Diskriminierung», sagt Anwalt Husmann. «Körperlich Kranke erhalten Renten, auch wenn ihr Leiden therapierbar ist. Die mittelschwer Depressiven müssen jetzt eine Zusatzhürde erfüllen, die sie gar nie überspringen können.» In der internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-10 steht: «Ein Patient mit einer mittelgradigen depressiven Episode kann nur unter erheblichen Schwierigkeiten soziale, häusliche und berufliche Aktivitäten fortsetzen.»

Faktischer Rentenausschluss für mittelschwer Depressive

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, und Assistent Michael Meier haben zahlreiche Bundesgerichts-Entscheide untersucht, wie der «Tages Anzeiger» berichtete. Ihr Befund: Das Bundesgericht habe «quasi durch die Hintertüre» die Rechtspraxis verändert. Und: «Das ist keine geringfügige Praxisverschärfung. Es ist für eine ganze Gruppe von Versicherten der faktische Ausschluss aus dem Rentenanspruch und das finde ich stossend.» Er fordert, die IV müsse stattdessen den Einzelfall prüfen. «Das Bundesgericht selbst hat das vor zwei Jahren deutlich gefordert.»

IV-Stellen haben Praxis deutlich verschärft

Nicht nur das Bundesgericht, auch die IV-Stellen hätten die Praxis gegenüber Depressiven massiv verschärft. Das sagen zahlreiche Sozialversicherungs-Anwälte und Kanzleien gegenüber «10vor10». Sie sprechen von einer «eindeutigen» oder gar «extremen Verschärfung».

Die Praxis führt dazu, dass man als mittelschwer Depressiver keine Aussicht mehr hat auf eine IV-Rente.
Autor: Jana Renker Rechtsberaterin

Es sei inzwischen nahezu unmöglich geworden, für einen mittelschwer Depressiven eine Rente zu erhalten. So sagt etwa Rechtsvertreterin Jana Renker: «Seit einem halben Jahr haben wir keinen Entscheid mehr von der IV gesehen, bei dem ein mittelschwer Depressiver eine Rente erhalten hätte. Die Praxis führt dazu, dass man als mittelschwer Depressiver keine Aussicht mehr hat auf eine IV-Rente.»

Der Hintergrund auch hier: Das neue Kriterium der «Therapieresistenz». Die Anwälte melden «10vor10» bereits rund 150 Fälle von den IV-Stellen Solothurn, Aargau, Zürich, Bern, Basel-Stadt, Luzern, und St. Gallen. Und: Abgelehnt würden mittelschwer Depressive selbst dann, wenn sowohl die behandelnden Ärzte als auch die IV-internen Ärzte ganz klar sagen würden, die Person könne nur Teilzeit arbeiten.

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Im Studio: Stefan Ritler, Bundesamt für Sozialversicherungen
Aus 10 vor 10 vom 17.07.2017.
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Bundesgericht kommentiert Urteile nicht

Das Bundesgericht schreibt: «Das Bundesgericht geht auf Kritik an seiner Rechtsprechung ein, es kann dies aber nur in seinen Urteilen tun.

Zur Frage, ob Menschen mit einer mittelschweren Depression vom Bezug einer IV-Rente ausgeschlossen sind, verweist das Bundesgericht auf seine langjährige, in vielen Entscheiden festgehaltene Praxis: Eine invalidisierende Wirkung einer mittelschweren depressiven Störung ist nicht auszuschliessen; Voraussetzung ist jedoch, dass eine konsequente Depressionstherapie befolgt wird, deren Scheitern das Leiden als resistent ausweist.»

Auch die IV-Stellen Konferenz nimmt schriftlich Stellung: «Die IV-Stellen sind gehalten, die Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Praxis anzuwenden. Sind Depressionen therapeutisch angehbar, gelten diese als nicht invalidisierend.»

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