2800 Franken hat Elena Bianchi* für sich und ihre beiden Töchter pro Monat für Miete, Krankenkasse, Strom, Essen und Telefon zur Verfügung. Für Kleider, Schuhe und kleinen Luxus bleiben gerade mal 200 bis 300 Franken.
Die Alleinerziehende verdient als Sekretärin in einer Physiotherapie-Praxis mit einem Pensum von 30 Prozent rund 1500 Franken pro Monat. Wenn sie nicht arbeitet, kümmert sie sich um ihre beiden Kinder. Von ihrem Ex-Partner erhält sie Alimente von rund 1300 Franken. Mit einem Einkommen von rund 2800 Franken gilt Elena Bianchi in der Schweiz per Definition als arm.
Grundsätzlich sind Alleinerziehende wie Elena Bianchi laut dem Bundesamt für Statistik weit häufiger von Armut betroffen als Paare mit Kindern. Öfters als andere am Existenzminimum leben auch ältere Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Mit Corona trifft es nun aber auch ganz andere, wie Selbständige oder Angestellte in Kurzarbeit.
«Es gibt in der Schweiz viele Selbstständige und Angestellte, die bisher knapp über die Runden gekommen sind», sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS. Bricht bei Menschen, die wenig verdienen und wenig Vermögen haben der Verdienst weg oder sie verdienen wegen Kurzarbeit weniger, dann wird es schnell knapp mit dem Geld.
Für Selbstständigerwerbende ist momentan auch keine Besserung in Aussicht. Seit dem 1. Juni können sie keine Erwerbsausfallentschädigung mehr beziehen. Und eine Sondersession, welche Nothilfegelder für Selbständigerwerbende beschliessen könnte, wird es nun nicht vor der Sommerpause geben. Das entschieden die Büros von National- und Ständerat diese Woche.
Wenn das Geld nicht mehr fürs Essen reicht
Auch bei Elena Bianchi geriet das sonst schon enge Budget mit Corona weiter unter Druck. Ihr Arbeitgeber hat zwar Kurzarbeit für sie beantragt, unter dem Strich heisst das für die alleinerziehende Mutter aber: noch weniger Geld. «Ich hatte Angst, den Kindern nichts mehr zu Essen auf den Tisch stellen zu können, es ist ja sonst schon knapp.»
Bei Elena Bianchi brachen nicht nur die Einnahmen ein, sondern es stiegen auch die Ausgaben. Ihre Kinder würden oft am Mittag bei den Grosseltern essen. Doch die sind, quasi über Nacht, zur Risikogruppe geworden. Und um Geld zu sparen, kauft Elena Bianchi normalerweise über der Grenze in Deutschland ein. Sie schäme sich zwar dafür, aber in der Schweiz könne sie es sich nicht leisten. Das habe sie gemerkt, als die Grenzen wegen der Pandemie geschlossen waren.
Hilfswerke springen ein
Bianchi hat sich wegen ihrer Situation bei der Caritas gemeldet. Das Hilfswerk hat ihr Einkaufsgutscheine zugeschickt und 3000 Franken für die Miete überwiesen. «Ohne diese Unterstützung wären wir nicht durchgekommen», sagt die alleinerziehende Mutter. Sie versuche alles, um zu verhindern, in die Sozialhilfe abzurutschen.
«Ich will keine Schulden», sagt sie. Die könne sie mit ihrem Lohn sowieso nur schwer zurückbezahlen. In einigen Kantonen muss die Sozialhilfe zurückbezahlt werden, so auch im Kanton Thurgau, wo Elena Bianchi wohnt.
8000 neue Sozialhilfe-Bezüger seit Ende Februar
Viele Menschen in der Schweiz sind trotz Engagement der Hilfewerke trotzdem in die Sozialhilfe abgerutscht. Allein zwischen Ende Februar und Ende Mai sind rund 8000 Menschen zusätzlich von der Sozialhilfe abhängig geworden, sagt Markus Kaufmann von der Sozialhilfe-Konferenz SKOS.
Wie angespannt die finanzielle Situation bei vielen ist, zeigt nicht nur das Beispiel von Elena Bianchi, sondern auch die Bilder aus Genf (siehe oben), wo Menschen während des Lockdowns kilometerlang für Gratis-Lebensmittel angestanden sind.
Ein Grossteil davon waren Sans-Papiers. Sie haben kein Anrecht auf Sozialhilfe und stehen deshalb mit nichts da, wenn sie kein Geld verdienen. Es waren aber auch viele Selbständige und Menschen in Kurzarbeit mit tiefen Löhnen dabei. Menschen, die auch schon vor der Krise nur knapp über die Runden gekommen sind.
75'000 weitere sind Sozialhilfe gefährdet
«Die Bilder haben sichtbar gemacht, was sonst oft verborgen bleibt: Nämlich, dass es auch in der reichen Schweiz arme Menschen gibt», sagt Stefan Gribi von der Caritas. Die Solidarität war denn auch gross. Rund 40 Millionen Franken wurden in den letzten Wochen der Glückskette gespendet.
Von diesen Geldern haben Caritas, Heilsarmee, Winterhilfe und das Schweizerische Rote Kreuz in Not geratene Menschen mit Einkaufsgutscheinen oder solchen Einmalzahlungen, wie sie Elena Bianchi erhalten hat, unterstützt. Allein die Caritas hat an 6000 Menschen Spendengelder ausbezahlt.
Markus Kaufmann von der Sozialhilfe-Konferenz rechnet damit, dass manche trotz dieser Unterstützung in die Sozialhilfe abrutschen werden. «In den nächsten zwei Jahren könnten rund 75'000 Menschen zusätzlich zu Sozialhilfebezüger werden», so Kaufmann. Das liesse die Sozialhilfebezügerquote massiv in die Höhe springen.
Hohe Kosten für Kantone und Gemeinden
Nicht alle der von Armut Betroffenen beziehen Sozialhilfe. Rund 270'000 sind Ende 2018 Sozialhilfe-Bezüger. Markus Kaufmann befürchtet nicht nur, dass mehr Menschen in die Sozialhilfe abrutschen, sondern auch, dass viele es schwieriger haben werden, wieder rauszukommen.
Der Wirtschaftsabschwung macht die Situation auf dem Arbeitsmarkt schwieriger. Für Ausgesteuerte wird es eine grössere Herausforderung, eine Stelle zu finden.
Schlittern tatsächlich in den kommenden zwei Jahren zusätzliche 75'000 in die Sozialhilfe, wird es für die Kantone und die Gemeinden und somit für die Allgemeinheit teuer. Es würde die Kantone und die Gemeinden rund eine Milliarde Franken zusätzlich kosten, schätzt Markus Kaufmann. «Die Kosten der Sozialhilfe würden von drei auf vier Milliarden Franken steigen», so Markus Kaufmann.
Fokus muss auf Arbeitsmarktintegration liegen
Der besorgniserregenden Entwicklung gegenwirken würde die Überbrückungsrente, sagt Markus Kaufmann von der Sozialhilfe-Konferenz. Die Überbrückungsrente wurde in der Sommersession beschlossen. Sie soll verhindern, dass über 60-Jährige vor ihrer Pension noch in die Sozialhilfe abrutschen, wenn sie ihren Job verlieren.
Und trotzdem müsse alles daran gesetzt werden, dass auch diese Personen noch eine neue Stelle finden würden, so der Geschäftsführer der SKOS. Viele seien gut ausgebildet. Um das Problem zu lösen, müsse der Fokus aber auch auf der Integration der Selbständigerwerbenden in den Arbeitsmarkt liegen. Darin sind sich SKOS, Caritas und auch die Politik weitgehend einig.
* Name von der Redaktion geändert