Vor einem Monat gingen Bilder aus Genf durch die ganze Schweiz. Sie zeigten, wie hunderte Menschen bei einer Abgabestelle für kostenlose Lebensmittel Schlange standen. Auch in Zürich war dies vergangene Woche zu beobachten. Die Corona-Pandemie verschärfe die Armut der Ärmsten in der Schweiz noch einmal drastisch, sagt Stefan Gribi von der Caritas.
SRF News: Hat sich die Armutslage durch das Coronavirus verschärft?
Stefan Gribi: Ja, das ist leider definitiv der Fall. Betroffen sind insbesondere auch Leute, die sich bisher noch mehr schlecht als recht selber über die Runden gebracht haben. Jetzt fehlt ihnen die Möglichkeit, ihre Existenz selbst zu sichern, zum Beispiel weil ihre Einkommen weggebrochen sind. Wir hören hin und wieder: «Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diese Situation komme».
Sind mehr Menschen auf günstige Lebensmittel, auf Überbrückungsgeld oder gar auf Lebensmittelpakete der Caritas angewiesen?
Der Andrang in den Läden und die Anfragen bei unseren Sozialberatungen sind stark gestiegen. Die Leute sind mit existenziellen Fragen konfrontiert. Ich habe selber mit einer Mutter gesprochen, die sagte, sie habe nicht mehr gewusst, wie sie für ihre zwei Kinder das tägliche Essen bezahlen sollte. Situationen grosser Not und Verzweiflung werden an uns herangetragen.
Wie viele Menschen haben Ihre Hilfe bisher in Anspruch genommen?
Wir haben bis heute für 6000 Personen Überbrückungshilfe leisten können – auch mit der Unterstützung der Glückskette. Zum Teil übernehmen wir Rechnungen, die sich angestaut haben, das kann die Miete sein oder eine Zahnarztrechnung, die noch dazu kam. Wir geben Lebensmittelgutscheine ab und leisten zum Teil auch einfach finanzielle Überbrückungshilfe.
Die Armut ist latent vorhanden, geht durch die ganze Gesellschaft. Auch wenn das bisher nicht sichtbar war.
Welche Bedingungen muss man erfüllen, um eine Einkaufskarte für die Caritas-Märkte oder Überbrückungshilfe zu erhalten?
Man muss nachweisen können, dass man in einer Notlage ist, man bereits Prämienverbilligungen der Krankenkasse oder Ergänzungsleistungen bezieht oder überschuldet ist. Es können auch Leute sein, die ein Stipendium beziehen. Für die Überbrückungshilfe wird auch geschaut, ob man Ansprüche hat. Wenn es eine Weile dauert, bis man diese Ansprüche geltend machen kann, kommt die Hilfe der Caritas zum Zug, damit man nicht in ein Loch fällt.
Sie stehen mit Betroffenen in Kontakt. Was sind das für Leute?
Viele sind in prekären Arbeitssituationen. Das heisst, sie arbeiten zum Beispiel im Stundenlohn, bei zwei, drei oder mehr Arbeitgebern. Oder sie arbeiten auf Abruf. Es sind auch alleinerziehende Mütter, die ganz knapp aufgestellt sind. Es ist nicht eine spezifische Gruppe. Das zeigt: Die Armut ist latent vorhanden, geht durch die ganze Gesellschaft. Auch, wenn das bisher nicht sichtbar war.
Warum kann es sein, dass Menschen in der Schweiz durch alle sozialen Maschen fallen und auf Angebote wie die der Caritas angewiesen sind?
Die Schweiz hat ein sehr gut ausgebautes Sozialsystem, das ist unbestritten. Die Caritas weist aber seit Langem darauf hin, dass es auch Lücken hat, dass es Risiken gibt, in Armut zu geraten. Das hängt mit der Flexibilisierung der Arbeit und zum Teil auch mit Familienformen zusammen, die schlecht abgedeckt sind. Das wurde bis jetzt zu wenig ernst genommen.
Rechnen Sie mit einem länger andauernden Engagement?
Wir rechnen leider damit, dass das ein längerfristiges Engagement braucht. Die Coronakrise wird nicht eine Krise sein, die von heute auf morgen überwunden ist. Ich glaube, die Armut in der Schweiz wird ein Thema bleiben.
Das Gespräch führte Silvan Zemp.