Einige Patiententinnen und Patienten seien nicht mehr zur Therapie gekommen, erzählt Wolfram Kawohl, Chefarzt und Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der psychiatrischen Dienste Aargau. Sie hätten Angst gehabt, sich mit dem neuen Coronavirus anzustecken.
Zugleich suchten neue Patienten Hilfe in seiner Klinik: «Zugenommen haben die Beratungen und Behandlungen von Menschen, die im Rahmen der Krise ihre Arbeit verloren haben.» Es seien vor allem Personen, die in der Gastronomie gearbeitet hätten.
Sie wüssten nicht, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, manche schämten sich auch, den Job verloren zu haben. Für einige sei die Belastung so gross, dass es sie fast erdrücke, so Kawohl.
Existenzängste und Suizidgedanken
«Es sind Existenzängste, mit denen Betroffene zu kämpfen haben, und leider auch immer wieder lebensmüde Gedanken.» Suizidgedanken nach dem Verlust des Arbeitsplatzes sind für den Psychiater ein grosses Alarmsignal. Er hat zur Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid geforscht und publiziert. Ergebnis: Weltweit 20 Prozent aller Fälle von Selbstmord sind mit Arbeitslosigkeit assoziiert.
«Wenn es keine Arbeitslosigkeit gäbe, gäbe es 20 Prozent weniger Suizide», schliesst Kawohl daraus. In der Therapie versuche man, den Patienten Lösungswege aufzuzeigen. Zum Beispiel berufliche Alternativen. Und man helfe ein soziales Hilfsnetz zu organisieren, in erster Linie mit Fachpersonen.
Arbeitgeber und RAV in der Pflicht
«Da geht es dann nicht nur um wirtschaftliche Hilfe, sondern auch darum, nicht alleine zu sein.» Wenn das alles nicht funktioniere, würde man auch eine vorübergehende stationäre Behandlung anbieten.
Arbeitgeber, aber auch Beraterinnen und Berater in einem RAV seien sich oft nicht bewusst, was eine Kündigung auslösen könne, sagt Kawohl. Dabei sollten diese schon beim leisesten Verdacht, ihr Gegenüber könnte suizidgefährdet sein, schnellstens reagieren und den Betroffenen empfehlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Der Lockdown stresst viele
Der Soziologe Marc Höglinger von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) untersucht mit seinem Team die breiten Auswirkungen der Coronapandemie auf die Bevölkerung wissenschaftlich – auch die psychischen. Regelmässig werden dazu dieselben 2000 Menschen befragt.
«Ein beträchtlicher Teil der Personen gibt an, dass sie gestresst sind», sagt Höglinger. Gründe seien die Lockdown-Massnahmen, Homeschooling oder das Fehlen vieler persönlicher Kontakte. Ob sich die Situation mit der Teillockerung des Lockdown nun entspannt, werden die nächsten Befragungen der Hochschule zeigen.
Wird es besser oder schlimmer?
Auch die Frage, wie gross das Problem für die Gesellschaft als Ganzes bis Ende Jahr wird, bleibt vorerst offen. Salome von Greyerz leitet die Abteilung Gesundheitsstrategien beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Sie schliesst nicht aus, dass die Anzahl Menschen mit psychischen Problemen zunimmt.
Entscheidend seien verschiedene Faktoren, wie etwa die weiteren Lockerungsschritte: Wie viel Freiheit dürfen wir in diesem Sommer geniessen? Wie rasch erholt sich die Wirtschaft? Wird es wegen einer zweiten Welle neue einschränkende Massnahmen brauchen? Sollte sich die Situation zuspitzen, müsse man Massnahmen prüfen, wie den weiteren Ausbau der Beratungsangebote oder den Zugang zu mehr Online-Therapien, so Salome von Greyerz.