Das Bundesverfassungsgericht Deutschlands hat am Dienstag entschieden, dass Menschen mit Behinderung bei einer Triage in den Spitälern nicht benachteiligt werden dürfen, wenn wegen der Corona-Pandemie nicht alle Erkrankten intensivmedizinisch behandelt werden können. Dieselbe Frage stelle sich auch in der Schweiz, sagt Caroline Hess-Klein, stellvertretende Geschäftsführerin des Dachverbandes der Behindertenorganisationen.
SRF News: Wie ist die Situation in der Schweiz?
Caroline Hess-Klein: Die Situation in der Schweiz ist vergleichbar mit jener, die das Bundesverfassungsgericht in Deutschland kritisiert hat. Das Gericht hat festgehalten, dass Menschen mit Behinderungen in der Pandemie und insbesondere bei Triage-Entscheidungen gefährdet seien. Zweitens habe der Gesetzgeber nichts unternommen, um dieser besonderen Gefährdung entgegenzutreten. Das ist letztlich eins zu eins auf die Schweiz übertragbar.
Was der verfassungsmässige Schutz von Menschen mit einer Behinderung konkret bei Triage-Entscheidungen heisst, hat der Gesetzgeber bis heute nicht konkretisiert
Sie sehen auch hier Handlungsbedarf auf gesetzlicher Ebene?
Ja. In der Schweiz haben wir wie in Deutschland einen Schutz der Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierungen in der Verfassung. Aber das ist sehr allgemein. Was das konkret bei Triage-Entscheidungen heisst, hat der Gesetzgeber bis heute nicht konkretisiert, genauso wie in Deutschland. Das deutsche Gericht hebt auch hervor, wie wichtig die UNO-Behindertenrechtskonvention ist. Das Völkerrecht will in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie behinderte Menschen besonders vor Gefährdungen ihres Lebens und vor Diskriminierungen schützen.
Was befürchten Sie konkret aus der Sicht von Menschen mit Behinderung?
Das Urteil hält fest, dass Triageentscheidungen höchst anspruchsvolle Entscheidungen sind.
Das Gericht hält fest, man könne nicht sicherstellen, dass in diesen Momenten Menschen mit Behinderungen nicht diskriminiert würden.
Man könne nicht ausschliessen, dass in diesen subjektiven Momenten gewisse Vorurteile, stereotype Vorstellungen über das, was eine Behinderung bedeutet, einfliessen. Man könne nicht sicherstellen, dass in diesen Momenten Menschen mit Behinderungen nicht diskriminiert würden. Und deshalb, so das Gericht, sei es besonders wichtig, dass hier der Gesetzgeber eingreife und verbindliche Rechtsgrundlagen erlasse, die Ärztinnen und Ärzte letztlich bei ihren Entscheidungen unterstützen.
Wir haben in der Schweiz Triage-Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Warum braucht es aus Ihrer Sicht noch ein zusätzliches Gesetz?
Die Richtlinien der SAMW sind nicht verbindlich. Es sind empfehlende Richtlinien, die als Grundlage in unseren Spitälern dienen. Letztes Jahr hat die SAMW auf Druck der Behindertenorganisationen ihre Richtlinien angepasst. Denn die Behindertenorganisationen, unter anderem auch Inclusion Handicap, hatten moniert, dass diese Kriterien, so wie sie formuliert waren, zu Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen führen würden. Aber diese Richtlinien ersetzen keineswegs eine verbindliche rechtliche Grundlage. Die grüne Ständerätin Maya Graf hat dies letztes Jahr im Parlament thematisiert.
Ständerätin Maya Graf hat im Parlament gefragt, ob wir die rechtlichen Grundlagen für Triage-Entscheidungen in der Schweiz hätten.
Sie hat gefragt, ob wir die rechtlichen Grundlagen für Triage-Entscheidungen in der Schweiz hätten und insbesondere, ob wir rechtliche Grundlagen hätten, die sicherstellen, dass bei Triage Menschen mit Behinderung nicht diskriminiert würden. Auf diese Frage hat das deutsche Bundesverfassungsgericht für Deutschland die Antwort gegeben: Nein. Und diese Frage ist in der Schweiz gleich zu beantworten.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.