Mit der Corona-Pandemie stellen sich ethische Fragen. Etwa, wer auf einer Intensivstation behandelt wird, wenn die Plätze knapp sind. Entschieden werde aufgrund der medizinischen Prognose und der erwarteten Behandlungsdauer, sagen Richtlinien. Ist das gerecht? Der Philosoph Adriano Mannino hat sich mit der Frage befasst.
SRF News: Gibt es faire Kriterien für die Triage?
Adriano Mannino: Es gibt einen gewissen Konsens in der Medizinenthik. Zum Beispiel das Kriterium der Dringlichkeit, jenes der Erfolgsprognose oder des erwarteten Behandlungsaufwands. Doch in Deutschland haben Behindertenverbände Bedenken angemeldet: Solche Kriterien könnten sich diskriminierend auf Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen auswirken.
Man hört immer öfter die Forderung, auch die Impfung solle entscheidend sein für die Triage. Ein taugliches Kriterium?
Das ist umstritten. Viele im akademischen Diskurs meinen: Nein. Ich bin mir da nicht so sicher. Man muss feststellen, dass die weniger umstrittenen Kriterien – die Erfolgsprognose und der erwartete Behandlungsaufwand – stark korrelieren mit dem Impfstatus.
Für die Praxis ist der Impfstatus vielleicht gar nicht so entscheidend.
Wenn jemand ungeimpft ist, ist es wahrscheinlich, dass die Prognose schlechter ausfällt und der Aufwand höher ist. Und das führt dann automatisch zu einer Posteriorisierung von Ungeimpften. Das heisst, für die Praxis ist der Impfstatus vielleicht gar nicht so entscheidend.
Was spricht dagegen?
Den Impfstatus als Kriterium zählen zu lassen, könnte einen gewissen Systembruch bedeuten. Denn üblicherweise wollen wir das Solidaritätsprinzip walten lassen. Wir versichern jeden solidarisch, und das scheint mir an sich auch gerecht. Nur wird es schwieriger, wenn die Solidarität von Geimpften nicht nur einen finanziellen Beitrag abverlangt, sondern es ihnen auch abverlangt, je nachdem sogar zu sterben in einer Triage-Situation. Es gibt im Strafrecht durchaus auch das Verursacherprinzip. Wenn Sie zum Beispiel eine Notlage völlig vermeidbar verursacht haben, dann dürfen Sie sich nicht einfach so auf Kosten Dritter aus der Notlage befreien.
Also wenn ich Basejumpen gehe und auf die Intensivstation muss, müsste ich aufgrund dieses Prinzips hinten anstehen?
Im Normalfall nicht. Wenn ich nicht Basejumpen gehe, Sie aber schon, und Sie sich deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit etwas brechen, so trage ich sehr gerne solidarisch Ihre Behandlungskosten mit. Das ist meine moralische und auch rechtliche Pflicht.
Wenn die Solidarität von Geimpften nicht nur einen finanziellen Beitrag abverlangt, sondern je nachdem sogar zu sterben, wird es schwieriger.
Wenn Sie aber Basejumpen gehen in einer Situation, in der Sie schon wissen, dass eine Überlastung der intensiv-medizinischen Ressourcen droht, dann zwingen Sie mich durch ihr Handeln unter Umständen in diese Triage-Situation hinein. Und dann ändert sich ethisch und auch rechtlich die Beurteilung der Lage.
Irgendwer muss die Entscheidung treffen, wer behandelt wird und wer nicht. Was heisst das für die Ärztinnen und Ärzte?
Das ist für sie eine absolute Grenzsituation. Es kann nicht sein, dass wir in einem Rechtsstaat vermeidbar – und ich glaube, es war völlig vermeidbar – in eine Triage-Situation hineinlaufen. Seit Wochen haben wir die weiche Triage, in der sogenannt elektive Operationen verschoben werden, also auch Bypass- und Krebsoperationen. Da sterben auch Menschen, Grundrechte werden verletzt, auf Gesundheitsversorgung, auf das Leben. Und es gibt auch ein Recht der Ärztinnen und Ärzte, nicht als Entscheider in diese Situation hinein gezwungen zu werden, wenn sie vermeidbar gewesen wäre.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.