Vivien Stadler hat auf einem Auge nur noch wenig Sehkraft. Trotz dieser Einschränkung arbeitete sie bereits als Lehrperson an einer Blindenschule. Doch als sie sich für das Lehramtsstudium an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) bewarb, wurde sie abgelehnt – mit der Begründung, sie sei nicht in der Lage, den Beruf auszuüben.
Nun hat die Rekurskommission der Hochschulen im Kanton Zürich entschieden: Die Ablehnung war unrechtmässig. Stadler zeigt sich erleichtert: «Ich habe gemerkt, dass es sich lohnt, für seine Rechte einzustehen. Der Entscheid ist nicht nur für mich von grosser Bedeutung, sondern auch für andere Menschen mit einem Handicap.»
Silja Rüedi, Ausbildungs-Verantwortliche der PHZH, wollte das Urteil nicht kommentieren, da es noch nicht rechtskräftig ist. Sie verteidigte jedoch die Gesundheitsprüfung für Studienanwärterinnen. Es gehe um die Unmittelbarkeit von bestimmten Interaktionen, die eine Lehrperson gewährleisten müsse.
«Wenn dies nicht möglich ist, dann ist es ein grosses Hindernis, um den Beruf so auszuüben, damit das Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung gewährleistet ist», so Rüedi.
Erfolgreiches Beispiel aus Bern
Dass es durchaus möglich ist, trotz Sehbeeinträchtigung als Lehrperson zu arbeiten, zeigt das Beispiel von Michelle Bernasconi. Sie unterrichtet eine dritte und vierte Primarklasse im Kanton Bern – mit einem Seh-Rest, der ähnlich gering ist wie der von Vivien Stadler. Ihre Lösung: Die Kinder helfen mit.
«Der Klassenchef oder die Klassenchefin erteilt den Kindern, die ihre Hand strecken, das Wort. Wenn ein Kind die Hand hebt, um mir eine Frage zu stellen, und ich dies nicht sehe, fordert die Klassenchefin das jeweilige Kind auf, mir die Frage zu stellen», erzählt Bernasconi.
Diese Methode komme bei Schülern, Eltern und Kolleginnen gut an. «Die Reaktionen sind extrem positiv. Die Schulsozialarbeiterin sagt sogar, dass die Kinder bei mir viel über Selbstständigkeit lernen.»
Experten fordern mehr Inklusion
Fabian Winter, Professor an der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, verfasste das Gutachten im Verfahren von Vivien Stadler. Er sieht die Inklusion von Menschen mit Behinderung als wichtigen Schritt für das Bildungssystem.
«Wir suchen engagierte Leute, die vielleicht auch schon Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen haben. Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass der Zugang für die, die die formalen Kriterien erfüllen, natürlich auch gegeben sein muss», sagt Winter. Menschen mit Behinderung hätten zudem eine besondere Vorbildfunktion.
Für Vivien Stadler bedeutet das Urteil einen wichtigen Sieg. Ihr nächstes Ziel? Die Ausbildung zur Lehrerin beginnen – und nebenbei weiter für ihren Halbmarathon trainieren, den sie in zwei Monaten laufen will.
Die Entscheidung der Rekurskommission könnte nicht nur für sie, sondern auch für viele andere Menschen mit Beeinträchtigungen wegweisend sein.