Kultur soll inklusiver werden. Theater, Kino, Oper oder Zirkus sollen vermehrt auch für Menschen im Rollstuhl oder mit Sehbeeinträchtigung zugänglich sein. Dafür kämpft der Aargauer Verein Zukunftslabor und hat 2024 Neues gewagt: eine Zirkusvorstellung mit Audiodeskription. Für Besucherinnen und Besucher mit wenig oder ohne Sehkraft eine komplett neue Erfahrung, wie der Besuch zeigt.
Bilder vor dem inneren Auge
Menschen mit Behinderung haben im Herbst 2024 das Programm des Aargauer Circus Monti in Wettingen AG miterlebt. Dem Pilotversuch sollen weitere folgen, heisst es beim Verein Zukunftslabor, der das angestossen hat. Der Aufwand für die Audiodeskription einer ganzen Vorstellung ist nämlich relativ gross.
Zirkus für blinde Menschen läuft so ab: Besucherinnen und Besucher, die an einer Sehbeeinträchtigung leiden, sitzen im Zirkuszelt. Ausserhalb sitzt eine Sprecherin im Zirkuswagen und verfolgt die Vorstellung auf einem Bildschirm mit. Sie hat das Programm schon mehrfach gesehen und ein Skript vor sich.
Nun beschreibt Sprecherin Naima Bärlocher das Zirkusprogramm Detail für Detail, die Besuchenden erhalten die Informationen auf ihre Kopfhörer ins Zirkuszelt. «Das Zirkuszelt des Circus Monti, das sogenannte Chapiteau, hat eine Grösse von 30 Metern Durchmesser. Die Kuppel erreicht 11 Meter. 750 Sitzplätze um die runde Manege. In der Mitte der Manege hängt ein imposanter weisser Vorhang...», so startet die Audiodeskription.
Eindrücke aus dem Programm «Weil wir fliegen können»
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Bild 1 von 4. Der Circus Monti aus Wohlen AG beschäftigt ein rund 60-köpfiges Team. Der Zirkus arbeitet vor allem mit Artistiknummern und ohne Tiere. Bildquelle: zvg/Circus Monti/Felix Wey.
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Bild 2 von 4. Der weisse Vorhang, der in der Audiodeskription beschrieben wird. Gerade das poetisch-künstlerische des Circus Monti ist nicht ganz einfach zu beschreiben. Bildquelle: zvg/Circus Monti/Felix Wey.
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Bild 3 von 4. Das Clown-Trio unterhält das Publikum zwischen den Akrobatiknummern. Was Sehende einfach verstehen können, muss in der Audiodeskription gut beschrieben werden, damit der Humor der Clowns ankommt. Bildquelle: zvg/Circus Monti/Felix Wey.
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Bild 4 von 4. Hohe Sprünge, wildes Tempo oder Jonglierkunststücke: Dank Audiodesription soll Zirkus auch für Menschen mit einer Beeinträchtigung zugänglich sein. Bildquelle: zvg/Circus Monti/Felix Wey.
Die rasante Schleuderbrettnummer der Akrobaten fordert die Sprecherin enorm: «Der letzte Sprung von August ist so gewaltig, dass ich nicht mitzählen kann», sagt sie lachend. Im Publikum kommen ihre Beschreibungen gut an. «Für mich war es das erste Mal im Leben, dass ich so viel wie möglich der Nummern miterleben konnte», sagt Nicole Sourt Sánchez. Sie ist seit ihrer Kindheit stark sehbeeinträchtigt und freut sich über die Premiere.
Grandios! Ich habe das erste Mal im Leben verstanden, was für Kunsstücke die Artisten leisten.
Nicole Sourt Sánchez ist Co-Geschäftsleiterin des Schweizer Vereins Sensability und hat die Sprecherin für die erste Zirkus-Audiodeskription beraten. Sánchez wies auf Details hin, Kostüme oder eine Aktion, welche nicht genau genug beschrieben waren.
Das Pilotprojekt sei gelungen: «Eine Clownnummer blieb mir besonders. Die Clowns standen auf einem Tisch und wollten immer das Tischtuch wegnehmen, aber es ging nie, weil immer einer draufstand, bis alle aufgesprungen sind.»
Mehr als nur riechen und hören
Bisher habe sie Zirkus vor allem über Gerüche wie Popcorn oder die Musik wahrgenommen. Wenn man auch die Clown-Nummern miterleben könne, sei es plötzlich ein ganzheitliches Erlebnis, sagt Nicole Sourt Sánchez. «Ich habe das erste Mal verstanden, was für Kunststücke die Akrobaten wirklich abliefern.
Der Aargauer Versuch scheint schweizweit einzigartig. Einen ähnlichen Versuch gab es in Deutschland. Der European Youth Circus gastierte im November 2024 in Wiesbaden. Hier traten die begabten, jungen Artistinnen und Artisten Europas erstmals mit Audiodeskription auf.
Der Verein, der sich für die Zugänglichkeit von Kulturangeboten einsetzt, gibt den Anstoss. Danach seien die Häuser selbst verantwortlich, heisst es hier. Zirkus mit Audiodeskription war ein Versuch. Bisher seien trotz des Erfolgs keine weiteren Vorstellungen dieser Art geplant. Man hoffe auf Nachfolgeprojekte.