Von gläsernen und besorgten Bürgern
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Bild 1 von 10. Kurz vor den Anschlägen in den USA empörte sich Europa über das US-Abhörsystem Echelon. Der Vorwurf: Wirtschaftsspionage. Nach 9/11 monierten auch Schweizer Sicherheitsexperten, die USA hätten die klassische Geheimdienstarbeit zugunsten der Überwachung der elektronischen Kommunikation vernachlässigt. Echelons Erben sollten sich noch beweisen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 10. Die Bush-Administration rief zum «Krieg gegen den Terror» in Afghanistan und Irak, der britische Premier Blair und andere schlossen sich an. Auf nationaler Ebene liess der «Patriot Act» die Geheimdienste von der Kette: Section 215 der Anti-Terror-Gesetzgebung bereitete den Boden für die schrankenlose Überwachung der globalen Kommunikation. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 10. «Apokalyptisch», so Bundespräsident Leuenberger nach 9/11. Aber auch weit weg. Die Schweiz sei nicht «in erster Front» bedroht, verkündete Verteidigungsminister Samuel Schmid. Trotzdem könne man gegenüber dem Terror nicht neutral bleiben. Der Schluss des SVP-Bundesrats: «Wir streben einen Ausbau des Nachrichtendiensts an.». Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 10. Nicht nur die politische Linke reagierte skeptisch. Auch Christoph Blocher, damals gegen den UNO-Beitritt engagiert, warnte in den Medien davor, «nun einen Polizeistaat zu errichten.» Ein Patriot Act à la Suisse stand nie zur Debatte. Doch auch die Verschärfung des geltenden Staatsschutzgesetzes wurde in den kommenden Jahren torpediert. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 10. In der Vernehmlassung zu BWISII (Bundesgesetz zur Wahrung der inneren Sicherheit) – nun unter Justizminister Blocher – polterten SVP und die versammelte Linke gegen die «Zumutung für den Rechtsstaat». 2009 erteilte die unheilige Allianz den «Schnüfflern» im Parlament eine Absage – die Fichenaffäre wirkte nach. Diverse Skandale nährten die Skepsis. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 10. 2010 machte die Geschäftsprüfungsdelegation den «Fichenskandal 2.0» publik. Demnach hatte insbesondere der Inlandgeheimdienst DAP, der 2010 im NDB aufging, zu Unrecht zehntausende Personen in der Datenbank ISIS registriert. Bereits 2007 hatte die Fichierung von Basler Grossräten durch den kantonalen Staatsschutz für Aufsehen gesorgt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 10. 2013 erschütterte der NSA-Skandal die Welt. Es wurde klar: Die US-Behörde überwacht verdachtsunabhängig die globale Kommunikation. Die Snowden-Enthüllungen machten in Deutschland das Ausspähen unter Freunden ruchbar: «Geht gar nicht», befand Kanzlerin Merkel. Die Exzesse des eigenen Geheimdienstes brachten sie kurz darauf selbst in Erklärungsnot. Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 10. Nichtsdestotrotz wagte der Bundesrat den nächsten Anlauf. 2013 erfolgte die Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF), das NDG ging in die Vernehmlassung. Die Vorlagen wurden im Laufe des letzten Jahres von den Räten angenommen. Sie nehmen wesentliche Anliegen von BWIS II auf. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 10. Das NDG soll dem Staatschutz u.a. erlauben, Privaträume zu verwanzen, Telefongespräche abzuhören und Computer zu infiltrieren. Im Gegenzug soll die Aufsicht über den Nachrichtendienst verstärkt werden – die präventiven Überwachungsmassnahmen sollen der Kontrolle des Bundesrats und Bundesverwaltungsgerichts unterstehen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 10 von 10. Die verbliebenen Gegner ergreifen das Referendum. Balthasar Glättli (Grüne/ZH) sieht mit der «Kabelaufklärung» – der Internet-Überwachung mittels Stichwortsuche – eine «Mini-NSA» heraufziehen. Die aber von Verschlüsselungssoftware ausgebremst werde: «Jeder ist davon betroffen. Aber diejenigen, die wirklich etwas vorhaben, schlüpfen durchs Netz.» . Bildquelle: Keystone.
Am Morgen des 11. September 2001 steuern islamistische Attentäter Passagiermaschinen in das World Trade Center und das Pentagon. Der Angriff auf das Nervenzentrum der Supermacht kostet fast 3000 Menschen das Leben. Die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme brennen sich, in Echtzeit verbreitet und in Endlosschlaufen wiederholt, ins kollektive Gedächtnis ein.
Tief bewegt wendet sich Moritz Leuenberger an die Öffentlichkeit. Der damalige Bundespräsident versucht zu fassen, was in der westlichen Hemisphäre ein Gefühl des Entsetzens, der Ohnmacht auslöst – vergebens: «Es gibt keine Worte für diese apokalyptische Katastrophe, sie ist unvorstellbar und wird nie begreifbar sein.»
Die Stunde 0 nach 9/11
Nach dem spektakulärsten Terroranschlag aller Zeiten war, so schien es, alles anders. Auch in Europa. Tony Blair und (zunächst auch) Gerhard Schröder versicherten ihre unverbrüchliche Bündnistreue zu den USA; ausgehend von der Bush-Administration wurde auch auf dem «alten Kontinent» zum Krieg gegen den Terror gerufen, die Befugnisse der Geheimdienste teils massiv verschärft.
Auch die Schweiz sei im Angesicht des Terrors keine Insel der Glückseligen, beschworen Politiker aller Couleur. Doch sie blieb, wie so oft, ein Sonderfall. Vor der Herbstsession verständigten sich die Bundesratsparteien darauf, keine dringlichen Interpellationen zur Terrorbekämpfung einzureichen; in seiner Trauerrede zum Zuger Amoklauf vom 27. September, bei dem 14 Kantonsparlamentarier starben, mahnte Bundespräsident Leuenberger zur «Wahrung des demokratischen Rechtsstaates».
Doch gab es durchaus Stimmen, die zur Stärkung des Staatsschutzes aufriefen. «Man wird sich überlegen müssen, inwiefern unsere Errungenschaften der offenen Gesellschaft weitergeführt werden können», sagte Verteidigungsminister Samuel Schmid am Tag nach den Anschlägen in den USA. Der damalige Ständerat Hans-Rudolf Merz (FDP/AR) kam in der Wintersession zum Schluss, der präventive Staatsschutz und Nachrichtendienst sei im Nachgang zur Fichenaffäre zu stark eingeschränkt worden.
Gebrannte Kinder
Allein: Die jahrzehntelange Bespitzelung hunderttausender Schweizer durch die Bundesbehörden, die 1989 publik geworden war, wirkte nach. Der heutige Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP/BE), einst PUK-Untersuchungsrichter zur Fichenaffäre, warnte im «Bund» davor, «unter dem Titel Terrorismus zum Überwachungsstaat zurückzukehren.» Die Angst vor dem «Schnüffelstaat» reichte weit ins bürgerliche Lager.
Die Zurückhaltung der Politik korrelierte mit der Stimmung in der Bevölkerung. In der ETH-Studie «Sicherheit 2002» hielten die Autoren fest, das Sicherheitsgefühl im Land sei «auf gewohnt hohem Niveau»: «Dies mag nach dem 11. September 2001 überraschen, zeigt aber einmal mehr, dass sich isolierte Ereignisse in der Regel nur kurzfristig auf Grundstimmungen auswirken.»
Die Schlapphüte bleiben im Schrank
Immer wieder nahm der Bundesrat in den folgenden Jahren Anläufe, die präventivpolizeilichen Befugnisse auszubauen. Immer wieder parierten die Parlamentarier den Lauschangriff. «Die Vorstösse waren mit zu wenig Schutzüberlegungen ausgestattet und haben deswegen im politischen Prozess verloren», bilanzierte der langjährige Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür bei seinem Rücktritt.
Wenn Europa brennt, betrifft das auch uns.
Aus den «Schläfern» von 9/11 wurde der «homegrown terrorism» der Anschläge von Madrid (2004) und London (2005). Trotzdem wiesen die Räte noch 2009 eine Verschärfung des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) zurück; die SVP wollte gar nicht erst auf die Vorlage eintreten. Präventive Telefon- oder E-Mail-Überwachung sind bis heute verboten, die Verwanzung von Privaträumen bleibt tabu.
Das neue Gesicht des Terrors
15 Jahre nach 9/11 ist vieles anders. Aus einer abstrakten Bedrohungslage ist eine ganz konkrete geworden, der Terror wird fassbar, rückt näher: Mit dem Aufstieg des IS betreten «Dschihad-Rückkehrer» und «radikalisierte Einzeltäter» die Bühne – sie lösen auf blutige Weise ein, wovor westliche Nachrichtendienste seit Jahren warnten.
«Wenn Europa brennt, betrifft das auch uns», schloss Verteidigungsminister Ueli Maurer am 11. November 2015. Zwei Tage später verwandelten Dschihadisten die Weltmetropole Paris über Nacht in ein Schlachtfeld. Die Attacken werden zunehmend willkürlich und unberechenbar. Unterschiedslos schlagen Terroristen in Europas Hauptstädten oder der bayrischen Provinz zu.
Das Ende der Zurückhaltung
In ihrem neuesten Bericht benennen die Sicherheitsforscher der ETH einen Stimmungswandel in der Bevölkerung: «Es zeichnet sich ab, dass die Bürger bei der heutigen Terrorismusbedrohung dem Sicherheitsgedanken gegenüber der persönlichen Freiheit den Vorzug geben.» Auch politisch wird – trotz des NSA-Skandals von 2013, der die weltweite, massenhafte Überwachung unbescholtener Bürger publik machte – ein Umdenken manifest.
Im Herbst 2015 verabschieden die Räte das neue Nachrichtendienst-Gesetz mit deutlichem Mehr. Widerstand kommt fast nur noch von links. «Wir unterschätzen die terroristische Gefahr nicht, wir sind keine Naivlinge», sagt etwa Nationalrat Daniel Vischer (Grüne/ZH), der selber vom Staatsschutz fichiert wurde: «Aber nun wird ein Überwachungssystem installiert, das in den Neunzigerjahren nicht für möglich gehalten wurde.»
Die Mehrheit der Parlamentarier sieht es anders: Sie hält die Kontrollmechanismen für ausreichend, die Grundrechte der Bürger seien gewahrt.
25 Jahre nach dem Fichenskandal ist die Zeit der Tabus vorbei.