Die Geschichte des 13-jährigen Jamie, der eine Mitschülerin mit einem Messer ersticht, wühlt das Publikum des Streaminganbieters Netflix auf. Das Fernsehdrama darüber, wie aus dem Buben mit kindlichem Engelsgesicht ein Mörder wird, lehnt sich an reale Fälle an. Der britische Premierminister sprach von einem «Weckruf für die Gesellschaft».
Die brutale Story aus England hat eine Debatte über toxische Männlichkeitsideale und den Einfluss sozialer Medien ausgelöst, die auch auf die Schweiz überschwappt.
Gewalt-Parallelwelt «Manosphere»
So macht sich in Basel SP-Parlamentarier Claudio Miozzari Sorgen, wie es hiesigen männlichen Jugendlichen geht. Er hat einen parteipolitisch breit abgestützten Vorstoss eingereicht: Die Regierung solle abklären, wie Jugendliche zu Geschlechterrollen stehen und ob es problematische Tendenzen und Gruppen gibt, und deren Hintergründe ausleuchten.
Der Film-Jamie trifft im Internet und in den sozialen Medien auf Frauen hassende Männer, die Feminismus als Schwäche verhöhnen, Frauen als Ursache aller Probleme von Männern darstellen und Gewalt verherrlichen. «Manosphere» nennt man dieses Umfeld.
Es ist Zeit hinzuschauen, gerade was im Internet passiert.
Es geht nicht nur um eine Macho-Bubble oder Fiction, sondern um Facts; das zeigen die Femizide: In der Schweiz sind in den ersten 15 Wochen dieses Jahres schon 14 Frauen von ihren Männern oder Partnern getötet worden. «Es ist Zeit hinzuschauen, gerade was im Internet passiert», sagt Miozzari. Gute Grundlagen seien nötig, um Massnahmen zu ergreifen oder Aufklärungsarbeit zu leisten.
Miozzari verweist auf eine Studie des deutschen Bundesfamilienministeriums. Diese zeige, dass viele junge Männer einer von Ungleichheit geprägten Geschlechterordnung anhingen. So drohe Radikalisierung zum Schaden für das Zusammenleben.
Wir müssen die Radikalisierungstendenzen als Appell oder sogar Hilferuf verstehen.
Radikalisierungstendenzen junger Männer seien eine Realität, sagt Markus Theunert. Der Psychologe leitet den Dachverband der Schweizer Männer- und Väterorganisationen «Männer.ch» und plant selbst mit der Universität Zürich eine repräsentative Befragung.
«Wir müssen diese Radikalisierungstendenzen stark als Appell oder sogar Hilferuf verstehen.» Man dürfe die Jungen nicht alleine lassen mit der enormen Aufgabe, sich als Männer neu zu erfinden, so Theunert.
Defizite bei Sexualaufklärung
Weil Internet und Influencer verlockend simple Rezepte böten, brauche es Unterstützung, Orientierung und Begleitung. Zum Beispiel würden Buben bei der Sexualaufklärung oft vergessen, während Mädchen meist von den Müttern aufgeklärt würden.
Theunert appelliert darum an die Väter, Verantwortung zu übernehmen. Speziell bei 10- bis 14-jährigen Buben sei das enorm wichtig, weil diese sonst alleine mit einschlägigen Inhalten zurechtkommen müssten, die sie online fänden. Das könne zu Frauenhass führen.
Theunert mahnt, schon Buben müssten verstehen, dass Männer nicht per se starke Anführer sein müssten, sondern auch noch andere Rollen richtig seien. «Kein junger Mann hat ein Eigeninteresse, sich wie ein Superarschloch zu verhalten.» Das sei Folge von Orientierungslosigkeit.
Orientierung sei speziell wichtig, wenn auch in der Weltpolitik zunehmend Alphamänner wie Donald Trump oder Wladimir Putin solches Verhalten auf höchster Ebene als normal erscheinen liessen. Dass die Diskussion über toxische Männlichkeitsideologie nun in der Schweizer Politik ankomme, sagt Theunert, das stimme ihn zuversichtlich.