Mehrere tausend Menschen haben am Donnerstag in Bern demonstriert, bei aufgeheizter Stimmung, mit Provokationen und Handgemenge. Auf dem Bundesplatz haben einige von ihnen an der Absperrung gerüttelt – trotz Aufrufen, das zu lassen.
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause sprach auf dem Kurznachrichten-Kanal Twitter von einem verhinderten «möglichen Sturm» auf das Bundeshaus. Übertrieben findet er seine Aussage nicht. «Diese Bilder vom Kapitol in den USA kursieren in den einschlägigen Foren der Massnahmenskeptiker.» Die Polizei müsste vermehrt mit Personenschutz arbeiten.
Die Stimmung werde zusehends aggressiver, solche Attacken wie am Donnerstag habe Nause noch nie gesehen. «Im Moment läuft die Session der eidgenössischen Räte. Es kann nicht sein, dass plötzlich Scheiben zu Bruch gehen.» Eine rote Linie sei überschritten worden.
Diese Vor-Ort-Analyse durch die Sicherheits- und Einsatzkräfte in der Bundesstadt teilt auch der Experte Oliver Nachtwey in gewisser Hinsicht. Der Soziologie-Professor befasst sich an der Universität Basel mit der Bewegung gegen die Corona-Massnahmen.
Man sieht durchaus, dass sich ein Teil dieser Bewegung der Massnahmenkritikerinnen und -kritiker in den letzten Wochen sehr stark radikalisiert hat.
Er sieht zwar keinen konzertierten und geplanten Sturm nach amerikanischem Vorbild, aber: «Man sieht durchaus, dass sich ein Teil dieser Bewegung der Massnahmenkritikerinnen und -kritiker in den letzten Wochen sehr stark radikalisiert hat.» Durch den Beschluss des Bundesrates der strengeren Massnahmen habe es einen Radikalisierungsschub inklusive einer Militanz gegeben.
Kommunikation: zu wenig, zu plötzlich
Nach Nachtwey hat der Bundesrat die aktuellen, verschärften Massnahmen zu plötzlich und zu wenig gut kommuniziert und so gewissermassen zur Radikalisierung beigetragen. Oliver Nachtwey kann nicht ausschliessen, dass an der Demonstration auch die üblichen Krawallmacher von links und rechts dabei waren.
Doch seine Forschungen zeigten: «Es handelt sich häufig um Neuradikalisierte, auch aus der bürgerlichen Mitte heraus, die über die letzten Monate über die Massnahmenkritik eine sehr starke Selbstradikalisierung erfahren haben; und damit demokratische Normen überschreiten. Das ist für eine Demokratie bedenklich.» Mehr Dialog hätte eine solche Entwicklung möglicherweise verhindern können, spekuliert Experte Nachtwey.