Seit zwei Jahren leben wir nicht nur mit den diversen Varianten des Coronavirus, sondern auch mit diesem Reflex: Die Fallzahlen steigen, und das heisst zurück ins Homeoffice, Menschen meiden, Restaurants schliessen und vieles mehr. Und wenn es ganz schlimm wird: alles herunterfahren. Shutdown.
Und jetzt haben wir rekordhohe Fallzahlen von täglich über 30'000 Infizierten. Eben hat die Taskforce des Bundes vorgerechnet, dass die Ansteckungen noch viel höher steigen dürften. Auf dem Höhepunkt dieser fünften Welle gegen Ende Januar könnten innerhalb einer Woche bis zu zweieinhalb Millionen Menschen infiziert sein. So manch einer mag sich denken: Jetzt muss etwas geschehen.
Lockerungen statt Verschärfungen
Doch Verschärfungen kündigt niemand an. Der Bundesrat lockert sogar die Isolations- und Quarantäneregeln. Kann das gutgehen? Ist es richtig, die Massnahmen nicht weiter zu verschärfen?
Wir wissen es nicht. Auch der Bundesrat nicht. Aber er befindet sich auch nicht in einem Blindflug wie vor zwei Jahren. Denn heute hätten wir Massnahmen, die sich bewährt hätten, betont Gesundheitsminister Alain Berset. Dazu die Impfung und das Zertifikat. Und die Auslastung der Intensivstationen mit Covid19-Patientinnen und -Patienten bleibt stabil.
Pragmatismus birgt Risiken
Man wolle die Schweizerinnen und Schweizer auch nicht durchseuchen, betont Bundespräsident Ignazio Cassis. Der Bundesrat sei vielmehr auf der Suche nach dem richtigen Weg, versucht der Tessiner Arzt zu erklären. Ein Abwägen zwischen gesellschaftlichem Geschehen und medizinischer Betreuung. Beides soll möglich sein, solange es noch freie Spitalbetten hat. Eine pragmatische Strategie nennt es Bundesrat Berset. Eine Strategie, mit der man aber auch gewisse Risiken eingehe.
Diese pragmatische Strategie verfolgt die Landesregierung eigentlich ziemlich konsequent. Es ist eine Politik der Abwägung von Risiken. Der Bundesrat will möglichst einfache Regeln, damit sie von der Bevölkerung auch wirklich eingehalten werden. Mit dem Gesundheitssystem als oberste Richtschnur ist der Bundesrat auch bereit, dem Personal in Spitälern und Heimen einen Teil des Drucks aufzubürden.
Die Schweiz hat für diesen Pragmatismus, für etwas Normalität, einen hohen Preis bezahlt. Mit einem liberalen Regime und einer vergleichsweise offenen Corona-Politik haben wir im Herbst 2020 sehr viele Tote in Kauf genommen.
Vielleicht geht sie auf, die pragmatische Strategie. Es sei denn, das Virus mutiert erneut.