Zum ersten Mal entzieht die Schweiz einem Doppelbürger die Staatsbürgerschaft. Der Mann aus dem Kanton Tessin, wurde vor zwei Jahren zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er für eine islamistische Terrororganisation Propaganda betrieben und Kämpfer rekrutiert hatte. Für Juristin Barbara von Rütte hat der Fall eine grosse Tragweite.
SRF News: Wo sehen Sie die Schwierigkeiten bei diesem Bürgerrechtsentzug?
Barbara von Rütte: Die zentrale Frage ist meiner Ansicht diejenige nach der Verhältnismässigkeit. Ist es, gemessen an den Taten, die der Mann begangen hat, angemessen? Der Mann verliert nicht nur sein Schweizer Bürgerrecht, er verliert auch zahlreiche Rechte, die an das Bürgerrecht geknüpft sind: seine politischen Rechte oder das unbedingte Recht in der Schweiz zu leben. Dem stehen die Sicherheitsinteressen der Schweiz gegenüber.
Die Sicherheit der Schweiz ist ja auch wichtig.
Aber man muss die Frage stellen, ob die Sicherheit der Schweiz wirklich besser geschützt wird, wenn dem Mann das Bürgerrecht entzogen wird. Ausserdem müsste diskutiert werden, ob die Schweiz und die Gesellschaft hier nicht auch eine Mitverantwortung tragen, wenn sich eine Person so radikalisiert. Darf sich ein Land dann einfach aus der Verantwortung stehlen, in dem es ihr das Bürgerrecht entzieht?
Der Entscheid ist Ihrer Meinung nach nicht rechtens?
Das kommt darauf an, wie lange der Mann schon in der Schweiz ist, ob er beispielsweise schon hier geboren wurde, und wo sein Lebensmittelpunkt ist. Ausserdem ist wie gesagt wichtig, ob der Entzug wirklich zur Sicherheit der Schweiz beiträgt. Angesichts der Höhe der Haftstrafe bezweifle ich, ob der Entzug wirklich verhältnismässig ist. Das werden aber letztlich die Gerichte klären müssen.
Wann wäre ein Bürgerrechtsentzug Ihrer Ansicht nach gerechtfertigt?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Es geht bei der Frage der Verhältnismässigkeit immer um den Einzelfall und darum, wie eng die betroffene Person mit der Schweiz verbunden ist. Und auch, welche Konsequenzen der Entzug für sie hat. Klar ist, dass ein Entzug nach Schweizer Recht nur bei Doppelbürgern zulässig ist. Nach Art. 42 des Bürgerrechtsgesetzes darf niemand durch einen Entzug staatenlos werden.
Muss man damit rechnen, dass noch mehr Bürgerrechtsentzüge folgen?
Ja. Offenbar prüfen die Behörden auch in anderen Fällen den Entzug des Bürgerrechts. Ich gehe daher davon aus, dass noch mehr Entscheide folgen werden.
Es ist das erste Mal, dass es jetzt zu so einem Entzug der Staatsbürgerschaft kommt – warum erst jetzt?
Die Schweiz hat zuletzt während des Zweiten Weltkriegs Menschen ausgebürgert. Danach war man lange der Meinung, dass eine solche Massnahme nicht nötig und auch nicht verhältnismässig sei. Erst nach 9/11 wurde es in der Schweiz wieder zu einem Thema. Seit dem 1. Januar 2018 ist nun mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz eine gesetzliche Grundlage in Kraft, die den Entzug genauer regelt.
Ist die Schweiz, verglichen mit anderen Staaten, eher streng?
Der Entzug des Bürgerrechts als Reaktion auf terroristische Aktivitäten wird in vielen Ländern diskutiert. In Europa gehört die Schweiz etwa zum Mittelfeld. Andere Länder wie Dänemark, Belgien und Frankreich haben aber auch schon Personen ausgebürgert. Am weitesten geht das Vereinigte Königreich, das auch Menschen ausbürgert, die nicht Doppelbürger sind. Es ist aber sehr umstritten, ob das völkerrechtlich überhaupt zulässig ist.
Das Gespräch führte Catherine Thommen.