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Spitäler: 1,5 Milliarden unnötige Kosten
Aus Kassensturz vom 29.09.2020.
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Pflegenotstand Pflege-Studie zeigt: Spardruck in Spitälern gefährdet Patienten

Mit diplomiertem Pflegefachpersonen könnten Spitäler und Heime 1.5 Milliarden Franken sparen und 200 Tote verhindern.

Die Liste an «unerwünschten Ereignissen», wie sie im Spital-Jargon heissen, macht Angst: Es geht um Medikamente-Verwechslungen, doppelt verabreichte Dosen an Blutverdünner oder vernachlässigte Kontrollen von frisch operierten Patienten in ihren Zimmern.

Gabriela Steiner, Pflegefachfrau:

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    «Sichere Pflege ist nicht mehr möglich.»
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    «Sichere Pflege ist nicht mehr möglich.»

    Gabriela Steiner, diplomierte Pflegefachfrau mit diversen Weiterbildungen, konnte als Angestellte in Spitälern und Pflegeheimen ihre Verantwortung gegenüber den pflegebedürftigen Menschen nicht wahrnehmen. Deshalb machte sie sich selbständig und arbeitet jetzt in der Palliativpflege, wo sensibler Umgang mit Pflegebedürftigen besonders wichtig ist. In Heimen habe es immer an Zeit und Leuten gefehlt, um wirklich sicher zu arbeiten: Die Situation dort findet sie schlimm, «eine sichere Pflege ist nicht mehr gewährleistet.»

«Wegen Personalmangels läuft bei uns durchschnittlich mindestens einmal pro Woche etwas schief», klagt eine diplomierte Pflegefachfrau gegenüber «K-Tipp» und «Kassensturz», die gemeinsam zu diesem Thema recherchierten. Dabei ist ein Spital kein Ort, wo Fehler nur zu Sachschaden führen, sondern oft menschliches Leid bedeuten.

Günstige Hilfskräfte statt ausgebildetes Personal

220'000 Frauen und Männer arbeiten in der Schweiz in der Pflege in Spitälern, Heimen, in der ambulanter Pflege und bei der Spitex. Um Kosten zu sparen, besetzen Spitäler und Pflegeheime offene Stellen statt mit gut ausgebildeten, diplomierten Pflegefachpersonen mit günstigeren Hilfskräften.

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Yvonne Ribi, SBK: «Beim Arbeiten unter Druck ist die Gefahr gross, dass das Pflegepersonal Komplikationen bei Patienten verpasst.»
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Doch der Pflege-Qualitätsverlust habe fatale Folgen, sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK): «Bei der Zusammensetzung eines Pflegeteams in Spitälern braucht es mindestens 75 bis 80 Prozent diplomierte Pflegefachleute. Geht es tiefer, kann es gefährlich werden.» Der Durchschnitt liege momentan bei etwa 70 Prozent. «Und deshalb finden wir, man müsste den Anteil an diplomiertem Pflegefachpersonal um mindestens 10 Prozent anheben.»

Die Pflegeinitiative

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In der Schweiz gibt es zu wenig Pflegefachpersonen. Hier will die Pflegeinitiative Abhilfe schaffen, die Pflegenden in ihrem Beruf aufwerten und eine Ausbildungsoffensive starten. Insbesondere sollen diplomierte Pflegefachpersonen gefördert werden.

Der Bundesrat lehnt das Volksbegehren ab. Er will einer spezifischen Berufsgruppe keine Sonderstellung in der Verfassung geben. Auch der Krankenkassenverband Santésuisse lehnt es ab. Gemäss Santésuisse gibt es heute keinen Pflegenotstand. Der Spitalverband H+ lehnt die Initiative ab, weil sie am falschen Ort ansetze, unterstützt aber den indirekten Gegenvorschlag des Parlaments. Dieses will die Ausbildung der Pflegefachpersonen mit Geldern von Bund und Kantonen fördern. Der Gegenvorschlag hat sowohl in National- als auch im Ständerat eine Mehrheit.

Weniger Fachkräfte führen zu mehr Komplikationen

Tatsächlich ist die Zusammensetzung des Pflegeteams für den Heilungsverlauf entscheidend. Dies zeigt eine Studie des Ökonomen Michael Gerfin von der Universität Bern und des Pflegewissenschaftlers Michael Simon von den Universitäten Basel und Bern. Die Wissenschaftler haben Daten von 1.2 Millionen Patienten aus über 135 Schweizer Spitälern analysiert.

Fazit: Weniger Fachkräfte führen bei den Patienten zu mehr Komplikationen und sogar zu einer höheren Sterblichkeit: «Wir konnten in unseren Berechnungen sehen, dass es im Prinzip eine Grenze nach unten gibt: Wenn der Anteil des diplomierten Pflegepersonals unter 70, 75 Prozent geht und die Pflegestunden pro Patiententag unter zehn Stunden sinken, nehmen die Risiken zu», sagt Michael Simon.

Konkret erhöht sich die jährliche Sterbewahrscheinlichkeit in den Spitälern auf bis zu 243 Todesfälle. Die Wissenschaftler haben die Studie im Auftrag des Pflegefachverbandes gemacht, der wiederum hinter der Pflegeinitiative steht.

Michael Simon, Pflegewissenschaftler:

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    «Investitionen in die Pflege zahlen sich aus.»
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    «Investitionen in die Pflege zahlen sich aus.»

    Zu wenig und zu gering ausgebildetes Personal in der Pflege hat direkte Auswirkungen auf die Versorgungsqualität und Sicherheit der Patienten und verursacht zusätzlich hohe Kosten. Dies zeigen Modellrechnungen, die der Pflegewissenschaftler Michael Simon auf der Basis von 1,2 Millionen Patientendaten gemacht hat. Simon sagt, es sei eine Realität, dass die Fälle im Spital und in der Langzeitpflege mit älteren Patienten immer schwerwiegender werden. «Dies setzt hohes Knowhow voraus, das durch Hilfspersonal nicht zu leisten ist.» Deshalb mache es Sinn, in einen höheren Anteil diplomierter Pflegefachfrauen im Pflegeteam zu investieren.

Über 220'000 Bettentage könnten eingespart werden

Paradox: Gemäss Studie erhöhen Investitionen in die Pflege nicht nur die Patientensicherheit, sondern sie senken auch die Gesundheitskosten. Zum Beispiel dank kürzerer Aufenthalte im Spital. Konkret könnten über 220'000 Bettentage und entsprechende Kosten gespart werden. Das sind je nach Spitaltarif bis zu 500 Millionen Franken.

Stellungnahme Spitalverband H+

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Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbandes H+, stellt die Studie nicht infrage. Aber die Spitäler könnten nicht mehr Leute anstellen, auf dem Arbeitsmarkt gebe es nicht genug diplomiertes Pflegefachpersonal. «Ausserdem braucht es die finanziellen Mittel, um diese Leute anzustellen. Wir nehmen die Verantwortung wahr. Wir haben absolut kein Qualitätsproblem in den Spitälern.» Es nütze nichts, sehr viele neue Leute anzustellen. Man müsse den richtigen Mix im Team haben. «Wir sind unter sehr grossem Druck, die Kosten zu senken. Das Geld steht nicht in allen Bereichen zur Verfügung. Doppelt so viele Leute anzustellen, ist zurzeit nicht möglich.» Ein Spital müsse sich weiterentwickeln und deshalb die Einnahmen in verschiedenen Bereichen investieren, also nicht nur im Personalwesen. Die Einnahmen, die gemäss Studie gespart werden könnten, würden zuerst ins Gesamtsystem der Spitäler zurückfliessen. «Wir müssen zuerst investieren. Erst danach können wir mehr Leute anstellen.» Erst ganz am Schluss könnte man dann dank eines höheren Anteils an diplomiertem Fachpersonal sparen.

Auch in Pflegeheimen und bei der Spitex bringt der Verzicht auf teureres Fachpersonal nichts: Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass fehlendes Fachwissen zu unnötigen Spitaleinweisungen führt. «42 Prozent der Hospitalisierungen wären potenziell vermeidbar», sagt Simon. «Extrapoliert auf den ambulanten Bereich ergibt das ein Sparpotenzial von über einer Milliarde Franken pro Jahr.»

Kassensturz, 29.09.2020, 21:05 Uhr

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