Der Frust beim Pflegepersonal ist gross. Schon im Normalbetrieb würden sie physisch und psychisch an ihre Grenzen gehen, berichten viele an «Kassensturz». Dass sie nun unverschuldete Minusstunden nacharbeiten müssten, sei inakzeptabel. Dagegen aufzubegehren wagt aber kaum jemand – zu gross ist die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust.
Minusstunden abarbeiten sei empörend, sagt eine Betroffene im «Kassensturz»: Noch unverständlicher: «Bei uns gab es einen positiven Coronafall. Drei Personen mussten in Quarantäne. Jedoch nur einen Tag, nicht wie vorgeschrieben fünf Tage. Dieser Tag wurde nicht als Krankheit, sondern als Minusstunden verbucht.» Eine bodenlose Frechheit, sagt sie. «Das hat mit Respekt und mit Wertschätzung gar nichts zu tun.»
Man macht mit uns, was man will.
«Gespart wird auf dem Buckel der Pflegenden»
Erik Grossenbacher, Geschäftsleiter des Berufsverbands der Pflegenden Aargau Solothurn, versteht die Praxis vieler Spitäler nicht: «Man setzt sich ein mit Kraft, Energie und Herzblut. Zum Dank muss man das unternehmerische Risiko tragen.» Dies sei nicht nur fehlende Wertschätzung, sondern auch demütigend: «Man wird aufgeboten, wenn man gebraucht wird, wird man nicht gebraucht, soll man zuhause bleiben.»
Auch Edith Wohlfender, Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegenden in der Ostschweiz, ärgert sich: «Ich stelle fest, dass auf dem Buckel der Pflegenden gespart wird, auf Teufel komm raus. Wir Sozialpartner werden nicht eingeladen, wenn es um solche Entscheidungen geht.»
Mehrheit der Spitäler wälzt Minusstunden ab
«Kassensturz» hat bei 30 Spitälern nachgefragt: Der Abbau von Minusstunden per Überstunden trage zur Arbeitsplatzsicherheit bei, begründen viele den Entscheid. Nur drei Spitäler sagen klar: Minusstunden werden nicht auf das Personal überwälzt.
Der Spitalverband H+ wollte vor der Kamera keine Stellung nehmen und schreibt: Man sei daran, zusammen mit den Sozialpartnern praktikable und für Arbeitgeber wie auch -nehmer akzeptable und arbeitsrechtlich einwandfreie Lösungen zu erarbeiten.
Beim Kantonsspital Baden (AG) heisst es: «Das Kantonsspital Baden hat mit den Sozialpartnern einen GAV ausgearbeitet. Dieser beinhaltet unter anderem eine Jahresarbeitszeit. Dazu gehört nicht nur Über-, sondern auch Minderarbeitszeit, wie im Personalreglement explizit festgehalten ist.»
Das ist das Risiko des Arbeitgebers, und der hat dafür einzustehen.
Und das Spital Appenzell begründet die Praxis damit, dass es nicht dem ordentlichen Arbeitsgesetz unterstehe. «Die für unser Haus geltende Personal-Verordnung sieht kurzfristige Änderungen der Arbeitszeit ausdrücklich vor. Das ist unabdingbar, damit wir unseren Leistungsauftrag erfüllen können.»
Renommierte Rechtsgelehrte widersprechen, etwa Fachanwalt und Arbeitsrechtdozent Roger Hischier: «Wenn Minusstunden im Zusammenhang mit dieser Pandemie aufgelaufen sind, dann darf man diese nicht nacharbeiten lassen. In solchen Fällen muss man den Lohn zahlen. Das ist das Risiko des Arbeitgebers, und der hat dafür einzustehen.»
Kristian Schneider vom Spitalzentrum Biel nimmt Stellung
«Die Zwölf-Stunden-Schicht ist nötig, um Operationen aufzuholen»
Kristian Schneider, Geschäftsleiter des Spitalzentrums Biel, sagt im «Kassensturz»-Interview, es gebe seitens der Klinikleitung keine Weisung, Minusstunden jetzt abzuarbeiten. Die Zwölfstunden-Schichten seien nötig, da viele Operationen aufgrund der bundesrätlichen Verordnung nicht durchgeführt werden konnten und jetzt nachzuholen seien. Das sei mit dem Personal abgesprochen. Weiter meint Kristian Schneider: «Es gibt sicher Mitarbeiter, die aufgrund ihres Minusstunden-Standes einen Druck verspüren und dieses Minus loswerden wollen. Das ist aber nicht die Idee. Bis heute wissen wir nicht, wie wir mit diesen Minusstunden umgehen sollen.» Streichen möchte das Spital die Minusstunden zum heutigen Zeitpunkt aber nicht. Schneider erklärt: «Die Wirtschaft hat Kurzarbeit angemeldet und bekommt Gelder dafür. Die Minusstunden werden quasi vom Bund finanziert. Wir können das nicht. Die klare Meinung des Staatssekretariats für Wirtschaft ist, dass Betriebe mit einem öffentlichen Auftrag keine Kurzarbeit anmelden können. Nun ist die Frage: Wie gehen wir damit um?» So wie es aussieht, soll also tatsächlich das unternehmerische Risiko auf die Mitarbeiter abgewälzt werden? Auf diese Frage entgegnet der Geschäftsleiter des Spitalzentrums Biel: «Grundsätzlich trägt immer das Unternehmen das Risiko. Aber wer ist Teil des Unternehmens? Das ist eine Frage der Unternehmenskultur. Wir möchten, dass es diesem Spitalzentrum gut geht.»