Über sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche spricht die Pilotstudie der Universität Zürich bisher von 1002 Fällen schweizweit. Bemerkenswert dabei: Nur sehr wenige dieser Fälle kommen aus der Südschweiz. Und das, obwohl die römisch-katholische Kirche dort viel stärker präsent ist als in der Deutsch- oder Westschweiz.
Als sie die geheimen Archive der Diozöse Lugano untersuchen wollte, fand sie eine grosse Lücke, sagt die für die Südschweiz verantwortliche Forscherin der Uni Zürich, Vanessa Bignasca. «Auch in anderen Diozösen wurden Akten vernichtet», sagt Bignasca. Speziell für die Südschweiz sei aber, dass es nirgends Hinweise darüber gebe, was da vernichtet wurde. Diese Aktenvernichtung fand Anfangs der 1990er Jahre statt.
Nur fünf Fälle
Jahrzehnte später, im Zuge der internationalen Enttabuisierung des sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche, wurde im Bistum Lugano eine Anlaufstelle eingerichtet für Opfer sexueller Gewalt. Bemerkenswert: Bis heute gibt es gerade einmal fünf Fälle.
«Die Forschung zeigt, die öffentliche und mediale Debatte über sexuellen Missbrauch in der Kirche erleichtert den Opfern eine Anzeige, ebenso wenn sie eine kirchenunabhängige Anlaufstelle haben. Im Tessin sind diese Prozesse erst am Anlaufen», so Bignasca.
Anlaufstellen fehlen im Tessin
Anders als in der Deutsch- und in der Westschweiz gibt es in der Südschweiz keine kirchenunabhängige Anlaufstelle für die Opfer sexueller Gewalt innerhalb der Kirche. Dass eine solche zwingend nötig ist, findet auch der derzeitige Administrator des Bistum Lugano, Alain de Raemy.
Es ist schwieriger als anderswo, sich mit einem Problem zu outen.
Er sagt, die Kleinräumigkeit der Südschweiz führe dazu, dass kaum jemand über sexuellen Missbrauch innerhalb der Kirche spricht. «Ich habe das Gefühl, die Leute kennen sich hier und meinen auch, alles voneinander zu kennen. Es ist schwieriger als anderswo, sich mit einem Problem zu outen», so Raemy.
Ein weiterer Unterschied zur Deutsch- und Westschweiz: In der Südschweiz gibt es verhältnismässig sehr viele Privatschulen mit katholischer Ausrichtung. Gemäss der Pilotstudie der Universität Zürich bot der abgeschlossene pädagogische Raum früher aus unterschiedlichen Gründen Raum für Missbrauch.
Selbst im Visier
De Raemy betont, die Gefahr des sexuellen Missbrauchs sei in diesen Schulen kein Tabu mehr. Auch de Raemy redet von einem Kulturwandel, den die katholische Kirche brauche. Gerade am Beispiel des Südkantons, bei dem es bisher kaum bekannte Fälle sexuellen Missbrauchs gibt, wird sich zeigen, ob sich wirklich etwas bewegt.
Gegen de Raemy läuft eine kirchenrechtliche Untersuchung. Der Administrator soll sexuellen Missbrauch vertuscht haben. Er sagt, er sei unschuldig.