Es ist ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen von Kindern, die bis 1981 aus ihrem Umfeld gerissen, in Heime gesteckt oder als günstige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Viele von ihnen haben Gewalt und Missbrauch erlitten, die Erfahrungen prägen sie ein Leben lang. Eines der Opfer ist Uschi Waser. Sie wohnt in Holderbank im Aargau. Sie und andere Betroffene erzählen seit Oktober auf der Plattform «Gesichter der Erinnerung» eindrücklich, was ihnen widerfahren ist. Die multimediale Plattform wurde zusammen mit Filmschaffenden oder auch Historikern entwickelt.
Was Betroffene wie Uschi Waser berichten, geht unter die Haut. Als sie ihre Akten sichten konnte, erfuhr sie, dass in den Gerichtsprozessen gegen ihren Onkel und ihren Stiefvater wegen Missbrauchs vieles falsch lief. Beurteilungen aus ihren Vormundschaftsakten wurden nur zu ihren Ungunsten ausgelegt.
SRF News: Uschi Waser, wie schwierig ist es über das Erlebte zu sprechen?
Es ist wichtig, es gehört zu meiner persönlichen Aufarbeitung. Wenn ich vor 33 Jahren nicht angefangen hätte zu reden, wäre ich wohl erstickt. Ich sage immer, es gibt zwei Uschis. Die vor der Akteneinsicht und die danach. Es ist mir bis heute nicht gelungen, wieder die alte Uschi zu sein.
Was hat sich verändert?
Das ist schwierig zu erklären. Ich war früher viel aufgestellter, «zwäg wie ne Federe» hab ich immer gesagt. Das hat sich mit dem Lesen der Akten schlagartig geändert.
Ich war früher viel aufgestellter.
Man wird stiller, nachdenklicher. Nicht depressiv, es verändert einen einfach tief in der Seele.
Wären Sie gerne wieder wie vor der Akteneinsicht?
Ja, sehr. Es stellt sich die Frage, ob es schlau war die Akten zu sichten, mit meiner Biografie. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich habe diesen Teil meiner Geschichte vorher immer unterdrückt. In den Heimen habe ich immer in zwei Welten gelebt. Eine Welt war die Realität, und eine Welt war das, was ich einmal sein könnte, meine Träume, meine künftige Familie, so hab ich mich durchgemogelt. Meine Fantasie hat mir geholfen. Ich habe mir die Welt schöner ausgemalt.
Wie viele Erinnerungen haben Sie noch an die schlimme Zeit?
Es sind wenige, aber prägnante Erinnerungen. Schläge, Missbrauch, Vergewaltigung – das ist geblieben. Als ich mit 18 Jahren aus dem Heim kam, war ich völlig orientierungs- und heimatlos.
Nach den Fremdplatzierungen war ich heimatlos.
Ich bin zur Mutter zurückgekehrt, habe später geheiratet, wurde Mutter. Ab dann war ich mit der Realität des Lebens konfrontiert und musste irgendwie durchkommen.
Sind Sie stolz auf sich, dass Sie einen Weg gefunden haben?
Stolz nicht. Es ist mein Gerechtigkeitssinn, der mir sagt, dass diese Geschichte nie unter den Teppich gekehrt werden darf. Es belastet mich, wenn ich die Geschichten anderer Betroffener höre. Ich bin deshalb sehr froh um die Plattform «Gesichter der Erinnerung», weil dort nicht nur Uschi Waser «jommeret», sondern auch andere ihre Erlebnisse teilen.
Sind Sie zufrieden, wie das Stück Schweizer Geschichte aufgearbeitet wurde?
Es erschüttert mich, dass man immer noch aktiv auf dieses Kapitel hinweisen muss. Vor 33 Jahren hab ich das erste Mal gesagt, dass es ein Stück Schweizer Geschichte ist, das in die Geschichtsbücher gehört. Man entschuldigt vieles mit dem Kantönligeist und den Schulen damals. Die Aufarbeitung ist für mich nicht gelungen. Ich hoffe, die Justizgeschichte wird auch aufgearbeitet.
Das Gespräch führte Beni Minder.