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Plötzlich Ex-Ständerat «Fall Simon Stocker» – ist Wohnsitzpflicht noch zeitgemäss?

Nach einem Bundesgerichts-Entscheid muss der SP-Mann sein Amt aufgeben. Der Entscheid wirft grundsätzliche Fragen auf.

Gestern Nachmittag hat Simon Stocker auf das Bundesgerichtsurteil vor den Medien reagiert – zwei Gefühle hatte er in sich: «Es ist ein schwieriger Tag. Gleichzeitig fühlt es sich auch gelöster an. Denn die letzten eineinhalb Jahre waren ein riesiger Stress für mein Umfeld und mich.»

Stress hatte Stocker wegen der Beschwerde eines Schaffhauser Bürgers, einem Anhänger des unterlegenen Ständeratskandidaten Thomas Minder. Der Beschwerdeführer hatte auch Werbeflyer für Minder verteilt.

Streitpunkt war, dass Stocker zum Zeitpunkt der Wahl mit Frau und Sohn in einer Dreizimmerwohnung in der Stadt Zürich lebte. Und gleichzeitig eine Zweizimmerwohnung in Schaffhausen hatte, wo er auch angemeldet war.

Der Kern des Urteils ist eine Absage an ein gleichberechtigtes Familienmodell.
Autor: Simon Stocker Ex-Ständerat (SP/SH)

Stocker habe seinen Lebensmittelpunkt zum Zeitpunkt der Wahl primär in Zürich gehabt, befand das Bundesgericht. Deshalb habe er gegen die Wohnsitzpflicht verstossen. Stocker findet: «Der Kern des Urteils ist eine Absage an ein gleichberechtigtes Familienmodell.» Weil er sich sein Leben nur so eingerichtet habe, damit seine Frau ebenfalls arbeiten könne. Das Urteil akzeptiere er aber.

Stocker tritt wieder an – ohne Angriffsfläche

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Mann in dunklem Anzug mit grauem Haar, seitliches Profil.
Legende: KEYSTONE/Michael Buholzer

Stocker will bei der Neuwahl Ende Juni wieder antreten. Ob auch der vor anderthalb Jahren unterlegene Thomas Minder antritt, ist unklar. Der Parteilose reagierte bisher nicht auf eine Anfrage von Radio SRF. Eine Gegenkandidatur könnte es von bürgerlicher Seite geben.

Diesmal wird Stocker keine Angriffsfläche mehr bieten, was den Wohnsitz angeht. Er stellte klar: «Ich lebe mit meiner Familie in Schaffhausen. Meine Frau ist hier angemeldet und mein Sohn kommt hier im Sommer in den Kindergarten.» Aus beruflichen Gründen habe man aber weiter eine Wohnung in Zürich. Denn seine Frau arbeite dort und sei als Wochenaufenthalterin in der Stadt.

Ist das Urteil also eine «Absage an ein gleichberechtigtes Familienmodell»? Diese Sicht teilt Andreas Glaser, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, nicht. Denn das Bundesgericht lege lediglich das bestehende Recht aus, zum einen das Bundesrecht und zum anderen das kantonale Recht in Schaffhausen. «Und letzteres schreibt eine strenge Wohnsitzpflicht vor.»

Das Urteil und die Kritik von Herrn Stocker sind Ausdruck eines potenziellen Missstandes oder davon, dass etwas nicht mehr mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt.
Autor: Andreas Glaser Rechtsprofessor an der Universität Zürich

Der Kanton Schaffhausen könne diese Wohnsitzpflicht für Ständeratsmitglieder jederzeit lockern und das Wahlgesetz ändern, sagt Glaser. Diese Pflicht gilt auch in anderen Kantonen – aber nicht in allen. Und für Nationalratswahlen gibt es die Wohnsitzpflicht nicht. Sonst könnte etwa die Zürcherin Magdalena Martullo-Blocher von der SVP nicht den Kanton Graubünden im Nationalrat vertreten.

Glaser, der auch Mitglied der Direktion des Zentrums für Demokratie ist, würde eine Diskussion darüber begrüssen: «Das Urteil und die Kritik von Herrn Stocker sind Ausdruck eines potenziellen Missstandes oder davon, dass etwas nicht mehr mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt.»

Entsprechend würde es Glaser begrüssen, wenn das Urteil rechtspolitische Diskussionen in den Kantonen und auf Gemeindeebene anstossen würde, ob die Wohnsitzpflicht gelockert werden müsste oder nicht. Die zentrale Frage wäre dann: Ist diese Wohnsitzpflicht in einer Gesellschaft mit vielen Pendlern noch zeitgemäss?

Das Für und Wider der Wohnsitzpflicht

Professor Glaser sagt: «Dafür spricht das demokratische Territorialitätsprinzip: Die Wohnsitzpflicht kann auch einen Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem Pendeln zwischen den Kantonen und der Entwurzelung sein.»

Dagegen spreche allerdings eine «gewisse selektive Wirkung» der Wohnsitzpflicht, sagt Glaser. «Sie wirkt sich nämlich häufig zulasten jüngerer Personen aus, die mobiler sind oder sich in Ausbildung befinden.»

Sicher ist: Nach dem Urteil muss die Wohnsitzpflicht – da, wo sie gilt – eingehalten werden. Das hat das Bundesgericht nun klargestellt.

Echo der Zeit, 26.03.2025, 18 Uhr

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