In der ‹ausserordentlichen Lage›, da wären einfach alle Interventionsmöglichkeiten der Kantone weg. Das wollen wir nicht!
Bundesrat Alain Berset sagte diese Worte Mitte März in der «Samstagsrundschau» von Radio SRF. Zwei Tage später rief der Bundesrat die ausserordentliche Lage trotzdem aus.
Dazwischen lag ein wunderschönes Frühlingswochenende, das Tausende entgegen der Empfehlung des Bundesrats auf die Plätze, die Parks und an die Ufer von Flüssen und Seen lockte.
Dazwischen lag ein Konflikt mit ein paar Wintersportgebieten, die am Samstag ihre Bergbahnen laufen liessen, obwohl Alain Berset an der Medienkonferenz tags zuvor die Schliessung ausdrücklich verlangt hatte.
Und dazwischen lagen die Entscheide der Kantone Basel-Landschaft und Tessin, die vorgeprescht waren und schon viel weitreichendere Massnahmen gegen die Corona-Epidemie beschlossen hatten: dass Bars, Clubs, Restaurants und die allermeisten Geschäfte schliessen müssen. Es war für den Bundesrat an der Zeit, das Heft in die Hand zu nehmen.
Seither regiert die Landesregierung mit Notverordnungen, die sich auf das Epidemiegesetz und den Notstandsartikel in der Bundesverfassung stützen. Weil, so die Voraussetzung für diesen Schritt, die innere und äussere Sicherheit der Landes bedroht sei.
Die Idee dahinter ist klar: es gilt eine unmittelbare Gefahr mit den geeigneten Mitteln wirksam zu bekämpfen. Weil das schnell gehen muss, gelten die üblichen politischen Abläufe nicht. Faktisch ist es so: der Bundesrat verordnet, die Kantone führen aus.
Föderalismus auf Sparflamme
Das gilt nicht nur für Massnahmen in einigen bestimmten Bereichen: Im Gesetz heisst es lapidar, der Bundesrat könne in dieser ausserordentlichen Lage die «notwendigen Massnahmen» ergreifen. Das bedeutet weitgehende Vollmachten und ein Blankoscheck für alles, was eben nötig ist, um die Epidemie zu bremsen.
Die Realität entpuppt sich allerdings als etwas «schweizerischer» als es der Gesetzesartikel vermuten lässt. Der Bundesrat scheint auch in der ausserordentlichen Lage bemüht, nicht einfach nur von oben zu verfügen. Er konsultiert die Kantone in der gebotenen Eile vor seinen Entscheiden, auch wenn er das in dieser Lage rein rechtlich nicht müsste. Man könnte sagen: Der Föderalismus lebt weiter, aber auf Sparflamme.
«Mir ist es wichtig in der Lage, die Kantone mitzunehmen», sagt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zu SRF. Darum lud sie letzte Woche alle Regierungspräsidenten der Kantone nach Bern zu einer Aussprache. Das Treffen war ein Signal an die Kantone, aber nicht nur. Bei dem Treffen wurde auch die ernste Lage im Tessin besprochen und die schärferen Massnahmen, die der Süd-Kanton deswegen ergriffen hatte, die Baustellenschliessungen etwa. Diese Massnahmen stehen im Widerspruch zu den Verordnungen des Bundesrats.
Wir brauchen jetzt den Bund, aber der Bund braucht auch die Kantone.
Nach dem Treffen entschied der Bundesrat, den Kantonen unter bestimmten Bedingungen doch besondere Regelungen zu erlauben – auch in dieser ausserordentlichen Lage. Diese Strategie, seine neue Macht über die Kantone nur behutsam auszuüben, kommt bei diesen gut an.
Die St. Galler Regierungspräsidentin Heidi Hanselmann, die auch der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) vorsteht, räumt ein: «Natürlich verläuft zwischen Bund und Kantonen zurzeit nicht immer alles harmonisch», aber das finde sie in dieser Krise nicht verwunderlich. «Wir brauchen jetzt den Bund, aber der Bund braucht auch die Kantone. Denn es ist wichtig, dass die Massnahmen von den Menschen in allen Landesteilen verstanden werden», zeigt sich Hanselmann überzeugt.
Eine andere Frage ist, ob sich der Föderalismus, der Kantönligeist, nicht schon im Vorfeld der Pandemie negativ ausgewirkt hat. So müssen sich die Kantone den Vorwurf gefallen lassen, mit zu wenig Bettenkapazitäten geplant, zu wenig Schutzmaterial beschafft und zu wenig Vorräte an gängigen Schmerzmitteln angelegt zu haben.
Manöverkritik nach der Krise
Vorwürfe, die GDK-Präsidentin Heidi Hanselmann nicht vom Tisch wischt. Sie hält aber solche Diskussionen zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. «Manöverkritik soll man nach der Krise machen, dann soll man alles anschauen und daraus lernen», so Hanselmann.
Der Ruf nach solchem Notverordnungsrecht könnte künftig rascher kommen.
Wann das ist, dieses «Nach der Krise», vermag im Moment niemand zu sagen. Und auch darüber, wie dereinst die Normalität wieder Einzug hält in Alltag und Politik und was von den Krisen-Erfahrungen zurückbleibt, lässt sich zur Zeit nur spekulieren. Felix Uhlmann, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, glaubt nicht, dass die momentane Macht des Bundesrats das Machtgefüge in unserem Land dauerhaft verändert – gerade auch weil der Bundesrat diese ungewohnte Macht umsichtig ausübe.
Uhlmann kann sich aber vorstellen, dass die positive Wahrnehmung des bundesrätlichen Krisenmanagements in breiten Bevölkerungskreisen nicht ohne Folgen bleibt. «Wenn die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Medien und Teile der Politik nach der Krise zum Schluss kommen, die besonderen Vollmachten des Bundesrats hätten sich bewährt, dann könnte der Ruf nach solchem Notverordnungsrecht künftig rascher kommen – auch in weniger ernsten Lagen.»