Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli fordert eine tabulose Diskussion über die Abschaffung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Diese sei finanziell gescheitert, sagte sie in der «Sonntagszeitung» und begründete dies mit der zunehmenden Prämienlast für den Mittelstand und den zunehmenden Prämienverbilligungen für Geringverdienende. Gesundheitsökonom Willy Oggier hält den Ansatz der SVP-Exponentin für nicht zielführend.
SRF News: Am Obligatorium rütteln, was halten Sie davon?
Willy Oggier: Es gilt zu unterscheiden, ob man kein Versicherungsobligatorium mehr will oder ob alle weiterhin versichert sein müssen, aber nicht zwingend in einer Grundversicherung. Rickli will offenbar das Obligatorium abschaffen, was gesundheitsökonomisch höchst problematisch ist. Denn dadurch wären nicht nur Arme im Versicherungsschutz gefährdet, sondern auch jene mit besseren Risiken: Sie müssten ihre Versicherungsdeckung auf dem Markt suchen. Dort würden sie für ihr gutes Risiko mehr Prämie bezahlen, weil diese auf Durchschnittsrisiken basieren. Selbstverständlich müssten auch ältere und kranke Menschen in einer privaten Versicherungslösung mehr für den gleichen Schutz zahlen, den jetzt die Grundversicherung bietet – falls sie überhaupt noch angenommen werden.
Warum wären die Prämien ohne Obligatorium zwingend höher?
Die Versicherer im freien Markt haben weniger Informationen über die versicherungswillige Person und müssen vorsichtiger sein, wen sie aufnehmen. Sie haben keinen Anreiz, kränkere Leute aufzunehmen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit Kosten verursachen. Deren Versicherungsschutz wäre dann allenfalls noch mit einem Risikozuschlag zu erhalten, der auf einem viel kleineren Versicherungskollektiv kalkuliert wird. Für alle jene, die für Grossrisiken etwa im Herz- oder Krebsbereich auf die Grundversicherung angewiesen sind, wird es schwierig, das zu schultern beziehungsweise eine Versicherungslösung zu finden.
Die Politik versprach 1994 ein solidarisches System, bei dem alle gleich viel bezahlen, sowie tiefe Kosten. Muss das System neu gedacht werden?
Man kann das System immer wieder auf den Prüfstand stellen. Der Zeitpunkt erscheint mir mit Blick auf ein neues Parlament und eine neue Leitung des Gesundheitsministeriums durchaus günstig, wie dies Rickli darlegt. Zu bedenken ist aber, wo man grundlegend hinterfragt.
Man könnte beispielsweise die Wahlmöglichkeiten in der Grundversicherung hinterfragen, und zwar gegen unten im Leistungskatalog: tiefere Prämien etwa für jene, die freiwillig Generika statt Originalpräparate nehmen, auf Komplementärmedizin verzichten und sich bei teuren Behandlungen auf qualitativ immer noch gute, aber kosteneffiziente Spitäler beschränken und allenfalls längere Wartefristen in Kauf nehmen. Aber die Grundversicherung insgesamt für weite Bevölkerungsteile in Frage zu stellen, scheint mir nicht der richtige Ansatz.
Wäre die von der SP propagierte Einheitskasse eine Lösung?
Die Einheitskasse gleicht aus gesundheitsökonomischer Sicht der Abschaffung des Obligatoriums. Sie ist damit definitiv keine gute Idee, sowohl bezüglich Kostenbekämpfung wie auch beim Schutz der Armen und Kranken. Denn man wäre in einer Einheitskasse auf Gedeih und Verderb auf diese angewiesen und könnte bei Unzufriedenheit nicht zu einer anderen Versicherung wechseln. Eine Einheitskasse würde zudem nichts an den grundsätzlichen Problemen ändern.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.