Die psychische Belastung während der zweiten Welle hat im Vergleich zum Frühling deutlich zugenommen. Das stellt der Stressforscher Dominique de Quervain in einer neuen Erhebung fest. Seine dritte Umfrage zum psychischen Gesundheitszustand der Schweizerinnen und Schweizer zeigt zudem einen Zusammenhang zwischen Infektionsgeschehen und Psyche.
SRF News: In Ihrer Studie stellen Sie fest, dass die Krise psychische Vorbelastungen verstärkt. Wirkt sie wie eine Art Brandbeschleuniger?
Dominique de Quervain: Der psychische Stress hat deutlich zugenommen gegenüber der ersten Welle im Frühling. Die erste Welle war noch einigermassen erträglich. Erst im Herbst haben dann viele realisiert, dass das Virus länger bleibt. Wenn man bereits eine psychische Vorbelastung hat, kann die Krise das Fass zum Überlaufen bringen.
Der Anteil der Personen mit schweren depressiven Symptomen hat während des Lockdowns im April 9 Prozent betragen, im November schon 18 Prozent. Die Verdoppelung ist doch dramatisch?
Wir sehen wirklich einen drastischen Anstieg. Besonders stark leiden die 14- bis 24-Jährigen. In dieser Gruppe zeigen 29 Prozent schwere depressive Symptome. Danach nimmt es dem Alter entsprechend ab.
Sind ältere Generationen widerstandsfähiger?
Dieser Trend zeichnete sich bereits in früheren Erhebungen ab, jetzt ist es aber deutlicher geworden. Die Jungen sind stärker betroffen von sozialen Einschränkungen, haben mehr Angst, dass jemand im engen Umfeld erkranken oder sterben könnte und sind in ihrer Ausbildung gestresst. Bei den über 65-Jährigen zeigen nur 6 Prozent schwere depressive Symptome.
Obwohl die älteren Menschen durch das Virus besonders gefährdet sind.
Das hat uns auch erstaunt. Ältere Menschen sind in ihrem Tagesablauf wohl weniger von den Massnahmen betroffen und finanziell abgesichert. Zudem haben sie viel erlebt und ordnen die Pandemie daher anders ein. Dafür sind Leute in stark betroffenen Branchen zusätzlich mit Stresssymptomen belastet.
Kantone mit höheren Fallzahlen zeigen auch höhere Werte bei der psychischen Belastung.
Zeigt dies, dass unser Wohlbefinden direkt mit materiellem Wohlstand verknüpft ist?
Wenn es existenziell wird, auf jeden Fall. Es löst grosse Ängste aus, wenn jemandem die finanzielle Lebensgrundlage entzogen wird. Doch wenn man genug verdient, spielt es für das Wohlbefinden keine Rolle mehr, ob man 100 oder 1000 Franken mehr bekommt oder nicht.
Die Romandie ist mit einer Häufigkeit schwerer depressiver Symptome von 22 Prozent stärker betroffen als Personen aus der Deutschschweiz mit 17 Prozent. Wieso ist das so?
Das widerspiegelt, wie stark die Regionen zur Zeit der zweiten Welle von der Pandemie betroffen waren. Die Romandie verzeichnete deutlich mehr Covid-19-Fälle, was auch auf die psychische Gesundheit einen Einfluss hat. In unserer Studie zeigt sich, dass die Kantone mit höheren Fallzahlen auch höhere Werte bei der psychischen Belastung hatten. Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen der Stärke der zweiten Welle und der Häufigkeit depressiver Symptome.
Bei vielen Menschen macht sich nun grosse Müdigkeit breit. Wann wird diese Müdigkeit oder dieser Stress zum Problem?
Wenn die depressive Symptomatik ein Ausmass erreicht, das sehr belastend ist. Wenn das jemand über mehrere Wochen an sich beobachtet und darunter leidet, soll er unbedingt Hilfe in Anspruch nehmen. Niemand kann sagen, wie lange diese Pandemie noch dauern wird. Die Impfung ist für viele so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels, das uns vielleicht auch hilft, jetzt noch einige Monate durchzuhalten.
Das Gespräch führte Marc Lehmann.