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Psychopharmaka bei Kindern «Psychopharmaka werden nicht schneller verschrieben als früher»

Junge Menschen in der Schweiz nehmen seit der Pandemie offenbar mehr Medikamente gegen Depressionen. Das zeigt eine Studie im Auftrag des Bundes zum Gebrauch von Psychopharmaka, also Medikamenten, die gegen psychische Erkrankungen verschrieben werden. Experte Alain Di Gallo gibt Auskunft, wofür sie gut sind.

Alain Di Gallo

Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsspitals beider Basel

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Das Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) ist ein eigenständiges, universitäres Kompetenzzentrum für Kinder- und Jugendmedizin sowie für Lehre und Forschung.

SRF News: Werden Psychopharmaka heute schneller verschrieben als früher?

Alain Di Gallo: Nein, Psychopharmaka werden nicht schneller verschrieben als früher. Aber mehr Jugendliche, auch mehr Kinder, suchen psychiatrische Hilfe auf und erhalten dementsprechend auch häufiger Psychopharmaka. Aber nur ungefähr oder weniger als eineinhalb Prozent aller dieser Medikamente werden Kindern und Jugendlichen verschrieben. Von 80 Personen, die ein Psychopharmaka nehmen, ist nur eines ein Kind oder ein jugendlicher Mensch.

Auf dieser Studie beruht das Interview:

Psychopharmaka sind stigmatisiert. Wie reagieren Kinder und Jugendliche, wenn sie hören, dass sie solche Mittel nehmen sollen?

Eine zentrale Rolle spielt die Information. Man muss informieren, warum man ein Medikament einsetzt, wie es wirkt, welche Nebenwirkungen es haben kann. Und Sie haben recht, wir überlegen uns immer: Ist ein Medikament notwendig?

Es geht nicht um Befindlichkeitsstörungen, sondern es geht um Kinder, die massiv unter psychiatrischen Symptomen leiden.

In der Kinder und Jugendpsychiatrie ist die medikamentöse Behandlung nie die Behandlung, die an erster Stelle steht, oder zumindest nie eine Behandlung, die allein durchgeführt wird. Diese Behandlung ist immer eingebettet in das, was wir Milieutherapie nennen. Das heisst, wir beziehen auch das Umfeld mit ein. Immer werden die Eltern einbezogen, gegebenenfalls auch die Schule. Junge Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, leiden stark. Es geht nicht um Befindlichkeitsstörungen, sondern es geht um Kinder, die massiv unter psychische Symptomen leiden.

Was muss ein Arzt oder eine Ärztin beachten, wenn sie Medikamente gegen. An einen Menschen, bei dem sich das Gehirn noch entwickelt?

Wir wissen, dass es gewisse Störungen, wie zum Beispiel eine schwere ADHS gibt, bei der Kinder und Jugendliche massiv von diesen Medikamenten profitieren können. Wenn diese Störung unbehandelt bleibt, dann sind die Risiken von Sekundärfolgen wie Misserfolg in der Schule, Selbstunsicherheit, Rückzug, soziale Ängste sehr gross. Man muss abwägen, ob man mit einem Medikament helfen kann, die Entwicklung zu stützen. Wir machen oft auch Voruntersuchungen und schauen, ob es eventuell gewisse Risikofaktoren gibt, die mit Nebenwirkungen interagieren könnten?

Natürlich gibt es Medikamente, die abhängig machen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie nutzen wir diese kaum, praktisch gar nicht.

Es gibt auch die Angst, dass gerade Kinder von solchen Medikamenten abhängig werden. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine wichtige Frage, weil es natürlich Medikamente gibt, die abhängig machen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie nutzen wir diese Sedativa, die Schlaf oder Beruhigungsmittel, die wirklich rasch abhängig machen können, kaum, praktisch gar nicht. Wir arbeiten fast ausschliesslich mit Medikamenten, die kein Abhängigkeitspotenzial haben.

Was ist Ihre Erwartung, nehmen die Zahlen ab oder zu, wenn das zweite Coronajahr einbezogen werden?

Die Zahlen der Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychologischen Angebote, die haben zugenommen. Wir sehen deutlich mehr Kinder und Jugendliche und Familien in Not seit Beginn der Pandemie. Die Systeme sind gefordert. Kinder reagieren sehr stark auf Überforderung oder Unruhe in ihrem System. Ob damit auch die Verschreibung von Psychopharmaka, von Medikamenten zugenommen hat, das wissen wir noch nicht. Ich gehe aber davon aus.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News, 18.03.2022, 06.20 Uhr; ; 

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