«Wie d Hüener zmitts im Morgegraue stöh sie scho parat / mit de fürwehrrote Socke u em Fotiapparat / Die Wanderer! Die Wanderer!»: Irgendwo zwischen Ohnmacht und Unglauben besingt die Berner Kultband Stiller Has das Wanderland Schweiz.
Und tatsächlich: Sobald die Temperaturen in den zweistelligen Bereich klettern, gibt es rund um die Schweizer Berge und Seen kein Halten mehr. Heerschaaren von Flaneuren, Walkern und Alpinisten schwärmen aus. Für alle ist der Weg das Ziel.
Denn Wandern ist eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen von Herr und Frau Schweizer. Jährlich wandern bis zu 1,3 Millionen Menschen jeden Alters, hält der Verein Schweizer Wanderwege stolz fest – Tendenz steigend.
Britische Entwicklungshilfe
Auch wenn der Boom anderes vermuten lässt: Wandern liegt nicht in der DNA der Eidgenossen. Es musste ihnen erst beigebracht werden – und zwar von den Briten. Englische Bildungsbürger und neureiche Unternehmer eroberten im 19. Jahrhundert die Alpen.
Denn sie hatten, was dem Schweizer Bauernvolk fremd war: Freizeit. Und das nötige Kleingeld, diese mit mehrmonatigen Reisen zu füllen. Entlang ihrer Routen entstanden strahlende Hotelpaläste, und britische Abenteurer waren es, die viele Schweizer Berggipfel als erste bestiegen.
Die scheusslichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht.
Die britischen Tourismus-Pioniere eroberten die Herzen der «Eingeborenen» aber nicht. Es blieb bei einer anthropologisch angehauchten Faszination für den freiheitsliebenden Bergler, gegenseitigem Misstrauen – und der ein oder anderen Beleidigung.
«Das Walliser Brot mit seiner ungeniessbaren dicken Kruste ist zum Wegwerfen», frotzelte etwa eine englische Lady 1869 in ihrem Reisejournal. Johann Wolfgang von Goethe spurte bei seinem Aufenthalt in Sitten 1779 vor: «Die Hässlichkeit der Menschen unterbricht die angenehmen Empfindungen, welche die Landschaft erregt, gar sehr. Die scheusslichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht.»
Zur Ehrenrettung des deutschen Dichterfürstes sei gesagt: Kaum jemand bewanderte die Schweiz so ausgiebig wie er. Und kaum jemand beschrieb die Schönheit und zerstörerische Kraft der Schweizer Bergwelt so eindringlich wie der junge Goethe, der sich im tiefsten Winter durch die Schneemassen über den Furkapass kämpfte: «Die Tiefen, aus denen man herkommt, liegen grau und dunkel hinter einem», schrieb er nach geglücktem Aufstieg. «Hier oben betrachtet man die Wolken nur als Gäste, als Streichvögel, die unter einem anderen Himmel geboren wurden.»
Ein einig Volk von Wanderern
Die buchstäbliche Unterwanderung der Heimat konnte das Schweizer Bildungsbürgertum nicht auf sich sitzen lassen. In Konkurrenz zum British Alpine Club – dem ersten Alpin-Club Europas – gründeten sie 1863 den Schweizer Alpen-Club (SAC). Ein erklärtes Ziel des SAC war, die Schweizer Wandermuffel wachzurütteln.
Und tatsächlich wich das Unverständnis der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Gelehrten und Gipfelstürmern dem Bedürfnis nach Erholung in der Natur; was auch den tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen um 1900 geschuldet war. Für die städtische Mittelschicht wurden die Alpen in dieser Zeit zum Sehnsuchtsort.
Am Anfang war der Zorn
Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte die Wanderlust schliesslich die Mitte der Gesellschaft. Einziges Problem: Der Aufstieg des Automobils. Der unausweichliche Showdown zwischen Autofahrern und Fussgängern sollte zur Geburtsstunde der Schweizer Wanderbewegung werden – initiiert von einem Lehrer aus der Ostschweiz.
Mit seiner Schulklasse aus der Zürcher Gemeinde Meilen wollte Johann Jakob Ess 1930 den Klausenpass überqueren. Statt «Körper und Geist zu erfrischen», trieb der Ausflug dem Lehrer die Zornesröte ins Gesicht: Links und rechts brausten Autos und Motorräder vorbei; die Wandergruppe schleppte sich im Staub und Abgas des motorisierten Verkehrs dem rettenden Ziel entgegen.
Ess schwor sich, sich fortan für eigens markierte Wanderwege einzusetzen. 1934, wenige Jahre nach der traumatischen Wanderung auf den Klausenpass, gründete er mit einigen Weggefährten den nationalen Verband der Schweizer Wanderbewegung. Sie ging ein Jahr später in die Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege (SAW) über.
Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg machte aus freiheitliebenden Eidgenossen endgültig freizeitliebende Wanderer. Der politische Kampf der SAW war damit aber nicht vorbei. Im Gegenteil: Der Höhepunkt stand erst noch bevor.
1974 lancierte die SAW die Volksinitiative «Zur Förderung der Fuss- und Wanderwege». Diese sollte den Bund beauftragen, der Verbauung des Landes durch Strassen Einhalt zu gebieten; so waren seit Mitte der 1960er-Jahre jährlich rund 1000 Kilometer dem Strassenbau zum Opfer gefallen.
Ein leicht entschärfter Gegenvorschlag wurde schliesslich 1979 mit überwältigender Mehrheit angenommen. Seither ist die Schweiz um einen Verfassungsartikel reicher, der international ein Kuriosum darstellt.
Heute umfasst das Schweizer Wanderwegnetz gut 65'000 Kilometer – die aufgrund des verfassungsmässigen Schutzes nicht nach Belieben zubetoniert werden dürfen.
Sendebezug: Nationalratsdebatte zur Förderung der Fuss-, Wander- und Velowege (Velo-Initiative)