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Rotbesockt und kleinkariert Wie wir wandern lernten

Arrogante Engländer, ein wütender Ostschweizer und 50'000 gelbe Pfeile: Die Geschichte des Wanderlands Schweiz.

«Wie d Hüener zmitts im Morgegraue stöh sie scho parat / mit de fürwehrrote Socke u em Fotiapparat / Die Wanderer! Die Wanderer!»: Irgendwo zwischen Ohnmacht und Unglauben besingt die Berner Kultband Stiller Has das Wanderland Schweiz.

Das Velo kommt zum Wandern

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Das Parlament will den Verfassungsartikel zu den «Fuss- und Wanderwegen» ergänzen: Laut Artikel 88 kann der Bund künftig «Fuss-, Wander- und Velowege» fördern. Die föderalen Kompetenzen bleiben aber gewahrt. Sollte die «Velo-Initiative» wie angekündigt zurückgezogen werden, wird das Volk dereinst nur noch über den Gegenvorschlag abstimmen.

Und tatsächlich: Sobald die Temperaturen in den zweistelligen Bereich klettern, gibt es rund um die Schweizer Berge und Seen kein Halten mehr. Heerschaaren von Flaneuren, Walkern und Alpinisten schwärmen aus. Für alle ist der Weg das Ziel.

Denn Wandern ist eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen von Herr und Frau Schweizer. Jährlich wandern bis zu 1,3 Millionen Menschen jeden Alters, hält der Verein Schweizer Wanderwege stolz fest – Tendenz steigend.

Frau macht Selfie vor Bergkulisse
Legende: Wandern ist schon lange nicht mehr älteren Semestern vorbehalten. Auch Junge zieht es immer öfter in die Berge. Keystone

Britische Entwicklungshilfe

Auch wenn der Boom anderes vermuten lässt: Wandern liegt nicht in der DNA der Eidgenossen. Es musste ihnen erst beigebracht werden – und zwar von den Briten. Englische Bildungsbürger und neureiche Unternehmer eroberten im 19. Jahrhundert die Alpen.

Denn sie hatten, was dem Schweizer Bauernvolk fremd war: Freizeit. Und das nötige Kleingeld, diese mit mehrmonatigen Reisen zu füllen. Entlang ihrer Routen entstanden strahlende Hotelpaläste, und britische Abenteurer waren es, die viele Schweizer Berggipfel als erste bestiegen.

Die scheusslichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht.
Autor: Johann Wolfgang von Goethe Deutscher Schriftsteller und Universalgelehrter (1749-1832)

Die britischen Tourismus-Pioniere eroberten die Herzen der «Eingeborenen» aber nicht. Es blieb bei einer anthropologisch angehauchten Faszination für den freiheitsliebenden Bergler, gegenseitigem Misstrauen – und der ein oder anderen Beleidigung.

Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer)
Legende: Aufklärer und Romantiker verklärten die Berge als Hort der Freiheit, auch das Unheimliche, Unbezwingbare faszinierte die europäische Bildungselite. (Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer) wikicommons

«Das Walliser Brot mit seiner ungeniessbaren dicken Kruste ist zum Wegwerfen», frotzelte etwa eine englische Lady 1869 in ihrem Reisejournal. Johann Wolfgang von Goethe spurte bei seinem Aufenthalt in Sitten 1779 vor: «Die Hässlichkeit der Menschen unterbricht die angenehmen Empfindungen, welche die Landschaft erregt, gar sehr. Die scheusslichen Kröpfe haben mich ganz und gar üblen Humors gemacht.»

Zur Ehrenrettung des deutschen Dichterfürstes sei gesagt: Kaum jemand bewanderte die Schweiz so ausgiebig wie er. Und kaum jemand beschrieb die Schönheit und zerstörerische Kraft der Schweizer Bergwelt so eindringlich wie der junge Goethe, der sich im tiefsten Winter durch die Schneemassen über den Furkapass kämpfte: «Die Tiefen, aus denen man herkommt, liegen grau und dunkel hinter einem», schrieb er nach geglücktem Aufstieg. «Hier oben betrachtet man die Wolken nur als Gäste, als Streichvögel, die unter einem anderen Himmel geboren wurden.»

Schweizer «Sherpas» und Abzocker

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Legende: Melchior Anderegg (wikicommons)

Ausnahmen bestätigen die Regel: Der Meiringer Bergführer Melchior Anderegg erlangte unter den britischen Alpinisten grössten Respekt. Er wurde sogar in den British Alpine Club nach London eingeladen. Den armen Bergbewohnern traten die Briten sonst aber eher wie Kolonialherren entgegen. Auch mit dem Grundvertrauen war es nicht weit her: Im Reiseführer «Practical Swiss Guide» etwa wurde vor Schweizer Langfingern und erpresserischem Zugspersonal gewarnt. Der Historiker Thomas Digby sagt es so: «Die Briten behandelten die Schweizer wie zuvor schon die Inder.»

Ein einig Volk von Wanderern

Die buchstäbliche Unterwanderung der Heimat konnte das Schweizer Bildungsbürgertum nicht auf sich sitzen lassen. In Konkurrenz zum British Alpine Club – dem ersten Alpin-Club Europas – gründeten sie 1863 den Schweizer Alpen-Club (SAC). Ein erklärtes Ziel des SAC war, die Schweizer Wandermuffel wachzurütteln.

Kuh steht vor Wanderrer
Legende: Als Kühe noch grösser als Ochsen waren – oder täuscht die Perspektive? Fest steht: Schon damals war das Wandern eine schweisstreibende Angelegenheit. (Aufnahme von 1932 in Saanen) Staatsarchiv Bern/Fotosammlung Carl Jost

Und tatsächlich wich das Unverständnis der Schweizer Bevölkerung gegenüber den Gelehrten und Gipfelstürmern dem Bedürfnis nach Erholung in der Natur; was auch den tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen um 1900 geschuldet war. Für die städtische Mittelschicht wurden die Alpen in dieser Zeit zum Sehnsuchtsort.

Kriegerische «Wandervögel»

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Legende: wikicommons

Um 1900 gewann das Wandern unter emanzipatorischen Jugendbewegungen grosse Bedeutung. In Berlin formierten sich die «Wandervögel», die, so der Historiker Jan Müller gegenüber Radio SRF, ohne «Anstandswawau» auf Wanderschaft gingen: «Es ging um Protest gegen die stark strukturierte Gesellschaft der damaligen Zeit, vergleichbar mit dem Drogenkonsum der 68er-Generation». Die Rebellion gegen eine überkommene Zeit trieb viele «Wandervögel» in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Was von der Bewegung übrigblieb, wurde später in die Hitlerjugend integriert. Die «Wandervögel» fassten Anfang des 20. Jahrhunderts auch an Deutschschweizer Mittelschulen Fuss, emanzipierten sich dann aber vom deutschen Vorbild.

Am Anfang war der Zorn

Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte die Wanderlust schliesslich die Mitte der Gesellschaft. Einziges Problem: Der Aufstieg des Automobils. Der unausweichliche Showdown zwischen Autofahrern und Fussgängern sollte zur Geburtsstunde der Schweizer Wanderbewegung werden – initiiert von einem Lehrer aus der Ostschweiz.

Video
«Freizeit ist wertvolle Zeit» (Filmwochenschau vom 12.11.43)
Aus News-Clip vom 01.03.2018.
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 7 Sekunden.

Mit seiner Schulklasse aus der Zürcher Gemeinde Meilen wollte Johann Jakob Ess 1930 den Klausenpass überqueren. Statt «Körper und Geist zu erfrischen», trieb der Ausflug dem Lehrer die Zornesröte ins Gesicht: Links und rechts brausten Autos und Motorräder vorbei; die Wandergruppe schleppte sich im Staub und Abgas des motorisierten Verkehrs dem rettenden Ziel entgegen.

Wanderer 1942 in Erstfeld
Legende: Das Archivbild aus Erstfeld belegt: Bis 1942 gehörte das karierte Wanderhemd noch nicht zur Pflichtausstattung. Staatsarchiv Bern/ Carl Jost

Ess schwor sich, sich fortan für eigens markierte Wanderwege einzusetzen. 1934, wenige Jahre nach der traumatischen Wanderung auf den Klausenpass, gründete er mit einigen Weggefährten den nationalen Verband der Schweizer Wanderbewegung. Sie ging ein Jahr später in die Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege (SAW) über.

Das Land der gelben Wegweiser

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Die erste und zweifellos sichtbarste Amtshandlung der Wanderbewegung war die Festlegung einer einheitlichen Signalisierung von Wanderwegen: Der gelbe Wegweiser war geboren. Im 2. Weltkrieg verlangte die Armee, dass die verräterischen Schilder abgenommen werden sollten: Die Signalisierung hätte dem Feind die Orientierung im Land erleichtert. Heute ist das Schweizer Wanderwegnetz mit seinen gut 50'000 Wegweisern und Markierungen einmalig in der Welt – und ein eigentlicher Wirtschaftsmotor geworden. Laut einer Studie des Bundes laufen zwei Drittel aller Wanderer den gelben Schildern nach.

Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg machte aus freiheitliebenden Eidgenossen endgültig freizeitliebende Wanderer. Der politische Kampf der SAW war damit aber nicht vorbei. Im Gegenteil: Der Höhepunkt stand erst noch bevor.

Wanderwegweiser
Legende: 2,5 Stunden bis zur Glattalp? Wer’s glaubt...Amateurwanderer hegen schon länger den Verdacht, dass die Strecken einst von Ueli Steck abgelaufen worden sind. Keystone

1974 lancierte die SAW die Volksinitiative «Zur Förderung der Fuss- und Wanderwege». Diese sollte den Bund beauftragen, der Verbauung des Landes durch Strassen Einhalt zu gebieten; so waren seit Mitte der 1960er-Jahre jährlich rund 1000 Kilometer dem Strassenbau zum Opfer gefallen.

Wanderer blicken aufs Matterhorn
Legende: Ein (fast) perfekter Wandertag: Das beliebteste Fotosujet der Schweiz will leider nicht mitspielen. Keystone

Ein leicht entschärfter Gegenvorschlag wurde schliesslich 1979 mit überwältigender Mehrheit angenommen. Seither ist die Schweiz um einen Verfassungsartikel reicher, der international ein Kuriosum darstellt.

Heute umfasst das Schweizer Wanderwegnetz gut 65'000 Kilometer – die aufgrund des verfassungsmässigen Schutzes nicht nach Belieben zubetoniert werden dürfen.

Sendebezug: Nationalratsdebatte zur Förderung der Fuss-, Wander- und Velowege (Velo-Initiative)

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