Seit über einem Jahr gehören Abstandhalten, Hände desinfizieren und soziale Kontakte vermeiden zu unserem Alltag. Mit der steigenden Impfquote und sinkenden Fallzahlen sind die Corona-Massnahmen gelockert worden. Diese Lockerungen stossen auf positive Resonanz bei einem Grossteil der Schweizer Bevölkerung.
Trotzdem gibt es einige Menschen, die Mühe haben, sich an die neuen Freiheiten zu gewöhnen. Dieses sogenannte «Cave-Syndrom» steht für die Angst, wieder in das normale Leben vor der Pandemie zurückzukehren. Können die Lockerungen also eine Heraus- und vielleicht sogar eine Überforderung nach einem Jahr Pandemie darstellen? Wir haben bei der Gesundheitspsychologin Urte Scholz nachgefragt.
SRF News: Der Grossteil der Bevölkerung reagiert mit Freude auf die Lockerungen. Doch es gibt auch Menschen, die mit negativen Gefühlen oder gar Angst auf die Lockerungsschritte reagieren. Wieso?
Urte Scholz: Mit den Lockerungen und mit der Rückkehr zur vermeintlichen alten Normalität kann auch eine gewisse Verunsicherung entstehen. Diese Verunsicherung kann einerseits daher kommen, dass sich manche Menschen nicht sicher sind, ob die Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt eine gute Idee sind. Andererseits haben sich einige Menschen ganz gut zurechtgefunden in der Pandemiezeit mit weniger Kontakten, weniger Sozialstress und der Arbeit im Homeoffice. Bei diesen Personen kann ein gewisses Bedauern entstehen, dass alles wieder so sein soll wie vor der Pandemie.
Was kann diesen Menschen bei der Umstellung in die Normalität helfen?
Ich rate den Menschen, die Mühe mit den Gewohnheitsveränderungen haben, die Umstellung in die Normalität langsam anzugehen und die Coronazeit auch als Chance zu begreifen.
Man könnte versuchen, nicht ganz zurückzukehren zur alten Normalität vor der Pandemie, sondern sich zu bemühen, aus den beiden Welten vor- und während der Coronazeit die positiven Aspekte mitzunehmen.
Es ist wichtig zu reflektieren, was positiv war an der ganzen Pandemiesituation und am Lockdown. Man könnte versuchen, nicht ganz zurückzukehren zur alten Normalität vor der Pandemie, sondern sich zu bemühen, aus den beiden Welten vor- und während der Coronazeit die positiven Aspekte mitzunehmen.
Gibt es Menschen, die einfacher mit solchen Veränderungen umgehen können als andere?
Ja, definitiv. Einerseits ist das persönlichkeitsbedingt, wie offen man für Veränderungen ist und wie man damit umgeht. Andererseits braucht man auch bestimmte Strategien, weil es Veränderungen sind, an die man sich erst wieder anpassen muss. Wenn man bereits am Limit läuft, dann kann es sein, dass man eher Mühe hat, als wenn man ausgeruht und ressourcenreich in diese Veränderungen hineingeht. Es hängt also nicht nur von der Persönlichkeit ab, sondern auch von den aktuellen Lebensumständen und der eigenen Befindlichkeit.
Haben die Pandemie und die Corona-Massnahmen auch Vorteile für die Menschen gebracht?
Für diejenigen Menschen, die jemanden verloren haben oder existenzielle Sorgen hatten, oder noch haben, hat die Pandemie sicher nichts Positives gehabt. Für die weniger stark betroffenen Menschen können sich aber Vorteile aus der Coronazeit ergeben haben. Die sind sicher sehr individuell.
Ich denke, insgesamt hat uns die Pandemie bewusster gemacht, dass nicht alles selbstverständlich ist und man soziale Kontakte nun mehr zu schätzen weiss.
Dass man beispielsweise mehr zu Hause gearbeitet hat und dadurch die Kinder mehr gesehen hat, kann sicherlich als Vorteil wahrgenommen werden. Oder dass man nicht die sogenannte Fear of Missing out, also diese Angst gehabt hat, etwas zu verpassen. Ich denke, insgesamt hat uns die Pandemie bewusster gemacht, dass nicht alles selbstverständlich ist und man soziale Kontakte nun mehr zu schätzen weiss.
Das Gespräch führte Saya Bausch.