In seiner Rede zum Gedenken an den Holocaust präsentierte Bundespräsident Ueli Maurer die Schweiz als leuchtendes Beispiel während des zweiten Weltkriegs. Was sagen Sie zu diesem verklärten Schweizerbild?
Georg Kreis: Man fragt sich: Geschah das bewusst, unbewusst oder war es etwa beides? Natürlich ist das eine Selbstbeweihräucherung, die eine dunkle Seite der eigenen Geschichte ausblendet.
Ist dieses Bild auch in der Schweizer Bevölkerung weit verbreitet?
Das können wir nur vermuten. Man kann davon ausgehen: Bundespräsident Maurer ist nicht der einzige, der so denkt. Es ging wohl darum, diese verbreitete Meinung zu bedienen.
Ist es nicht auch Aufgabe der Historiker, dieses verklärte Geschichtsbild zu korrigieren?
Es ist die Aufgabe der Historiker ein angemessenes, vollständiges Geschichtsbild zu zeichnen. Wenn möglich ohne «blinde Flecken». Dies ist in den letzten Jahren auch schon geschehen, beispielsweise in der Bergier-Phase. Ich sage bewusst Phase. Denn einerseits hat in dieser Zeit die Bergier-Kommission eine Spezialaufgabe erledigt. Anderseits gab es wichtige Beiträge ausserhalb dieser Kommission. Die Arbeit rund um die Aufarbeitung von nachrichtenlosen Vermögen in der Schweiz hat gesellschaftlich etwas bewirkt.
Gelingt diese Korrektur?
Historiker können fragwürdige Geschichtsbilder nicht vollständig korrigieren. Dass Bundespräsident Maurer und auch andere unserer Arbeit nicht Rechnung tragen, liegt nicht in der Verantwortung von Historikern. Die Geschichtsschreibung kann sich allerdings nicht darauf beschränken zu sagen, wie es nicht gewesen ist. Die Dekonstruktion von Mythen und Legenden ist wichtig. Aber man muss auch Gegenbilder entwickeln – und diese, muss man beifügen, sind wahrscheinlich ihrerseits ebenfalls korrekturbedürftig.
Wie muss man sich das vorstellen?
Dass man beispielsweise die Religion als Forschungsfeld wieder mehr beachtet. Die Annahme, dass der Stellenwert von Religion in der Gesellschaft an Bedeutung verloren hat, ist nicht eingetroffen. Im Gegenteil wir erleben sogar eine religiöse Renaissance. Daraus entsteht das neue historische Interesse an Religion.
Es ergeben sich daraus also neue Forschungsperspektiven für die Schweizer Geschichte?
Durchaus, und sie werden gepflegt. Ein Beispiel ist die Klimageschichte und ganz wichtig ist die in den letzten Jahren gewachsene Sensibilität für die Gender-Realitäten. Sie ist auch gewährleistet durch einen hohen Anteil von Historikerinnen.
Frauen machen inzwischen die Mehrheit der Geschichtsstudierenden aus. Und es ist klar: Frauen haben einen anderen Zugang als Männer. Die Beiträge in der beim Schwabe-Verlag vorbereiteten neuen «Geschichte der Schweiz» stammen je zur Hälfte von beiden Geschlechtern.
Gibt es weitere Forschungsfelder?
Ein weiteres Feld ist die Frage nach dem Reichtum der Schweiz. Stammt dieser von Diktatoren-Geldern, von den Schwarzgeldern der Steuerflüchtlinge? Oder hat sich die Schweiz einen «anständigen Reichtum» auf bürgerlicher Basis erarbeitet? Das sind simple Fragen, die aber noch zu beantworten sind. Auch in unserer Schweizer Geschichte bleibt die Frage nach dem Reichtum der Schweiz unbeantwortet. Möglicherweise spielt das industrielle Unternehmertum im 19. Jahrhundert eine Rolle.
Sie haben die Wirtschaft angesprochen. Wie sieht es mit dem Zugang bei Banken und Unternehmen zu den Archiven aus: Ist der Wille da, diese zu öffnen?
In der Bergier-Kommission hatten wir Zugang zu den Archiven. Allerdings hat man sich da auf die grossen Unternehmen der Finanz-Branche konzentriert. Vielleicht wären da kleinere Geldinstitute wie die Bank Wegelin genauso interessant. Es gäbe so viel zu tun, dass alle Schweizer Bürger als Vollzeit-Historiker arbeiten könnten. Allerdings muss man auch etwas davon verstehen. Das haben wir in der Bergier-Kommission gemerkt, als wir hochprofessionelle Fachleute in den Unternehmen hatten. Einem Feld-, Wald- und Wiesenhistoriker Zugang zu den Unternehmensarchiven zu gewähren, nutzt da wenig. Und ein bloss allgemeines Interesse für die Vergangenheit reicht nicht aus. Es braucht Sachverstand – über den nur die Spezialisten verfügen. Solche sind allerdings dünn gesät.