«Das Blut der Kinder klebt an den Händen der Kesb» titelte am Montag das Newsportal «20 Minuten». Das Zitat stammt von einem Eintrag der Facebook-Gruppe «Stopp der Kesb Willkür». Die Gruppe entstand, nachdem eine Mutter letzte Woche ihren Sohn (5) und ihre Tochter (2) in Flaach (ZH) getötet hatte. Die Seite hat in den letzten drei Tagen über 2300 Unterstützer gefunden.
Auch SVP-Politiker Pirmin Schwander und die Schriftstellerin Zoë Jenny machen die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Winterthur-Andelfingen für die Gewalttat mitverantwortlich. Der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer will die Behörde gar «strafrechtlich» zur Verantwortung ziehen.
Warum geraten Behörden ins Visier?
Demgegenüber stellte eine Journalistin des «Tages-Anzeiger» heute – korrekterweise – fest: «Die Mutter hat getötet, nicht die Kesb». SRF News Online wollte wissen, warum Schuldzuweisungen an die Behörden in solchen Fällen trotzdem zu den ersten Reaktionen gehören.
SRF: Eine Mutter tötet ihre zwei Kinder – und plötzlich wird die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb zur Täterin. Wie erklären Sie sich diese Rollenverschiebung?
Markus Müller: Dass eine Mutter ihre Kinder tötet, ist unvorstellbar. Darum muss es eine Erklärung dafür geben. Da der Staat in diesem Fall in das Leben der Familie eingegriffen hat, muss der Staat auch mitschuldig sein. Die ungünstige Kommunikation seitens der zuständigen Kesb – die zumindest teilweise auch dem Persönlichkeitsschutz geschuldet ist – macht es zudem einfacher, die Behörde verantwortlich zu machen. Hinzu kommen Machtverhältnisse: Auf der einen Seite eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern, auf der anderen Seite die Behörde als Teil der Staatsmacht.
Fehler der Behörden werden medial ausgeschlachtet und für politische Zwecke instrumentalisiert.
Hat die Gesellschaft das Vertrauen in die Behörden verloren?
Gegenüber den Behörden wird eine Misstrauenskultur gepflegt. Das hat einerseits historische Gründe. Andererseits werden immer wieder Skandale und Missstände in der Verwaltung bekannt. Es geschehen aber überall Fehler. Gegenüber der Verwaltung herrscht jedoch oft Nulltoleranz. Im Alltag werden Behörden zudem oft als schikanös, unzuverlässig und bremsend wahrgenommen.
Politische Exponenten und Parteien greifen immer wieder staatliche Organe an, etwa das Bundesgericht, die Sozialhilfestellen oder das Bundesamt für Migration. Ist diese politische Rhetorik für die von Ihnen diagnostizierte Misstrauenskultur mitverantwortlich?
Absolut. Fehler der Behörden werden medial ausgeschlachtet und für politische Zwecke instrumentalisiert. Wenn sie ins Spital gehen, hat der Chirurg als Fachperson einen Spielraum, innerhalb dessen er entscheiden kann, wie er vorgeht. Staatlichen Organen wie etwa dem Bundesgericht wird dieser Spielraum zunehmend nicht mehr zugestanden, weil man a priori davon ausgeht, dass diese Institutionen nicht im Sinne der Bürger handelt. Die gern gepflegte Gegenüberstellung von Volk und Staat ist undifferenziert – besonders in der Schweiz mit ihrem Milizparlament. Wohlverstanden: Auch das Bundesgericht macht Fehler. Für Fehler muss es aber ganz generell eine gewisse Toleranz geben.
Das Problem: Wenn der Staat in die Freiheit der Bürger eingreift, gibt es einen Aufschrei. Tut er es nicht, wirft man ihm Unterlassung vor.
In einem Referat haben Sie von der Erwartung an den Sozialstaat gesprochen, Gefahren präventiv verhindern zu müssen. Spricht die Gesellschaft dem Individuum die Verantwortung für seine Taten ab und überträgt sie dem Staat?
Das liberale Ideal, der Mensch könne ausschliesslich vernunftgeleitet und selbstbestimmt agieren, ist eben nur ein Ideal. Zwar ein erstrebenswertes, aber eines, das für den Menschen unerreichbar ist. Wir haben verschiedene Voraussetzungen, die uns in unterschiedlichem Masse dazu befähigen, Selbstverantwortung zu tragen. Wenn das nicht möglich ist, muss der Staat eingreifen. Das Problem: Wenn der Staat in die Freiheit der Bürger eingreift, gibt es einen Aufschrei. Tut er es nicht, wirft man ihm Unterlassung vor. Die Erwartung an den Staat, gleichzeitig maximale Freiheit und maximalen Schutz zu gewährleisten, ist letztlich unerfüllbar. In der Praxis ist es ein heikler Balanceakt – der immer wieder schiefgehen kann.
Nun droht eine Volksinitiative, die den Gemeinden beim Kindes- und Erwachsenenschutz wieder mehr Mitspracherecht einräumen soll. Hat sich die Vormundschaftsbehörde durch die Professionalisierung vom Bürger entfernt?
Heute, zwei Jahre nach der Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts ist man meiner Meinung nach noch nicht dort, wo man sein sollte. Das braucht noch mehr Zeit. Eine Professionalisierung ist bei so schwierigen Entscheidungen, wie sie die Vormundschaftsbehörden zu treffen haben, aber absolut notwendig. Ohne psychologisches Fachwissen lassen sich solche Fälle nicht angemessen beurteilen. Die Professionalisierung darf aus einer Behörde aber nicht automatisch eine distanzierte, gefühllose Einheit machen. Ich habe in meinem Bekanntenkreis selber einen Sorgerechtsentzug miterlebt, bei dem die Kesb-Verantwortliche das Kind nicht einmal gesehen hat. Das geht nicht und verträgt sich schlecht mit Professionalität. In solch delikaten Fällen braucht es viel Fingerspitzengefühl und Menschlichkeit – auch bei einer professionellen Behörde.