- Ist die SBB bereit für den Regelbetrieb im Gotthard-Basistunnel?
Grass: Vor der Einweihung des Basistunnels trafen sich die CEOs der Bahnen aus Deutschland, der Schweiz und Italiens zu einem Gipfeltreffen. Da wurden 21 Arbeitsprogramme aufgelistet. Nur eines erschien kritisch, das ist der Ausbau der Strecke Karlsruhe-Basel. In der Schweiz sind die grossen Ausbauschritte auf Kurs: die Schulung des Personals, die Beschaffung des Rollmaterials, der Ausbau der Bahnhöfe im Tessin sowie die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels und des Vier-Meter-Korridors im Jahr 2020.
- Was bereitet der SBB noch Sorgen?
Grass: Eine Anwohnergruppe in Walchwil hat Rekurs eingelegt gegen den Ausbau der Zugerseestrecke. Das Bundesverwaltungsgericht hat dem aufschiebende Wirkung erteilt. Somit kann die 18 Monate dauernde Sanierung nicht im Dezember 2016 beginnen, sie ist nun gemäss NZZ für 2019 geplant. Die gute Nachricht: so entfällt die ursprünglich vorgesehene Umwegfahrt und die Reise von Zürich nach Bellinzona wird ab dem Fahrplanwechsel 35 Minuten weniger dauern als bisher, nämlich 1 Stunde 39 Minuten.
- Wie erfolgreich sind die sogenannten Touristenfahrten im Basistunnel?
Grass: Bis Ende November fahren die Gottardino-Sonderzüge durch den Basistunnel mit Halt und Führung in der Multifunktionsstelle Sedrun. Die Züge sind praktisch ausgebucht. Nun bietet die SBB zusätzliche Züge an mit 2400 Plätzen.
- Wie sieht der Probebetrieb durch den neuen Tunnel aus?
Grass: Seit der Eröffnung am 1. Juni führt die SBB einen Probebetrieb im Basistunnel. Und ab dem 5. September finden kommerzielle Zugfahrten statt, das sind 3500 Güterzüge und 500 Personenzüge. Ein Grossteil des Güterverkehrs wird nun also durch den Basistunnels geführt. So werden Betriebsprozesse und Fahrplan eingeübt.
- Wie viele Züge werden ab Ende 2016 durch den Tunnel fahren?
Grass: Die Zahl der Personenzüge bleibt gleich wie bisher. Schliesslich wurde der Basistunnel für die Verlagerung des Güterverkehrs gebaut und nicht in erster Linie für den Reiseverkehr. Pro Stunde sind es zwei Personenzüge, die abwechselnd von Zürich respektive Basel bis Lugano oder Mailand fahren.
- Warum fahren die Züge dereinst nicht mit der maximal zulässigem Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h durch den Tunnel?
Grass: Das Fahrplankonzept sieht vor, dass nach jedem Personenzug ein Paket von Güterzügen in den Basistunnel einfährt. Die Personenzüge fahren mit 200 km/h, die Güterzüge mit 100 km/h. Die Fahrt der Personenzüge dauert knapp 20 Minuten, die der Güterzüge über 30 Minuten. Wenn alle Züge gleich schnell fahren würden, dann könnten 20 Züge pro Stunde und Richtung durch den Tunnel fahren. Je grösser der Geschwindigkeitsunterschied zwischen Personen- und Güterzügen ist, desto weniger Zugdurchfahrten sind möglich pro Stunde. Die Lösung mit den 200 km/h ist also ein Kompromiss.
- Wie will die SBB den Passagieranstieg meistern?
Grass: Insgesamt erwartet die SBB im Personenverkehr bis 2025 fast eine Verdoppelung der Nachfrage von heute 9000 auf rund 15'000 Personen pro Tag. Die SBB hat bei Stadler Rail 29 neue «Giruno» bestellt. Sie kommen ab 2019 schrittweise zum Einsatz. Dazu kommen 13 Lokomotiven vom Typ RE460, 120 Steuer- und Reisezugwagen sowie 18 Intercityneigezüge, die tunneltauglich gemacht werden müssen. Es geht um die Hitze und Feuchtigkeit im Tunnel, um Brandschutz und um das Zugsicherungssystem ETCS.
- Welche Pläne hat die SBB mit der alten Bergstrecke?
Grass: Bisher verkehrten viele Güterzüge und viele Fernverkehrszüge an der Bergstrecke. In Zukunft wird es ein interregionaler und touristischer Verkehr sein mit einer Verbindung pro Stunde und Fahrtrichtung. In der Deutschschweiz wird kritisiert, dass eine Fahrt nach Göschenen oft mit Umsteigen verbunden sein wird. Dies zeigt auch der Fahrplanentwurf 2017. Er zeigt aber auch etwas anderes: Es wird von Milano Centrale aus direkte Zugverbindungen über die Bergstrecke bis Erstfeld geben. So erhält ein Millionenpublikum in Mailand ein attraktives Gotthard-Angebot.
- Was passiert, wenn im Dezember 2017 die Konzession an der Bergstrecke ausläuft?
Grass: Bis dahin muss die SBB die Strecke als Fernverkehrsstrecke betreiben. Ein allfälliges Defizit beim Fernverkehr muss die SBB selber tragen. Anders beim Regionalverkehr: Da bezahlen die Besteller, das sind Kantone oder Gemeinden. Würde die Strecke im Regionalverkehr betrieben, dann fürchten der Kanton Tessin und die Gemeinden Kosten von zehn Millionen Franken. Ob die Bergstrecke mit einer Fernverkehrskonzession vergeben wird oder als Regionalverkehr, entscheidet sich 2017.
- Wie gross ist die Chance, dass die Bergstrecke an die Südostbahn vergeben wird und die SBB leer ausgeht?
Grass: Die Südostbahn möchte komfortable Zugfahrten von Zürich und Basel über die Bergstrecke bis Lugano anbieten. Die SBB dagegen setzt auf die leichten TILO-S-Bahn-Kompositionen. Der Bundesrat schätzt die ungedeckten Betriebskosten der Bergstrecke auf 10 bis 16 Millionen Franken pro Jahr. Die prognostizierten 600 Passagiere pro Tag sind viel zu wenige, um die Unterhaltskosten (25 bis 30 Millionen Franken pro Jahr) auch nur annähernd zu decken. Bei 20 Passagieren pro Zug plant die SBB, dass alle Fahrgäste im Wagen hinter dem Lokführer Platz finden – so will sie zu tiefstmöglichen Kosten ohne Zugbegleiter über den Gotthard fahren. Das ist umstritten. Das Ziel muss sein, neue zusätzliche Passagiere mit neuen Angeboten an die Bergstrecke zu bringen. Die tatsächlichen Passagierzahlen, die Erträge und Kosten an der Bergstrecke werden ganz wesentlich bei der Gestaltung der Zukunft an der Bergstrecke sein.
Fragen von Benedikt Widmer.