Bis zum 31. Oktober 2017 wird mit Hunderten von Veranstaltungen weltweit an den Thesenanschlag Martin Luthers 1517 in Wittenberg erinnert. Dieses Ereignis gilt als Beginn der Reformation, die zur Abspaltung der evangelischen von der katholischen Kirche führte. Heute geht es auch in der Schweiz los, mit einem Festakt in Genf.
SRF News: Wieso feiert die Schweiz das Lutherjahr, wenn sie mit Calvin in Genf und Zwingli in Zürich eigene Reformatoren hat?
Gottfried Locher: Wir haben in der Schweiz eigentlich keine Kultur des Personenkults. Wie feiern eigentlich gar nicht Martin Luther. Wir feiern nicht einen Reformator. Wir feiern die Idee der Reformation – die grosse Idee der persönlichen Freiheit und der persönlichen Eigenverantwortung. Diese Idee kam mit der Reformation auf. Und gerade Genf ist ein sehr guter Ort, um das Lutherjahr zu beginnen. Denn von Genf aus ging die Reformation rund um die Welt.
In Genf fährt heute ein Reformations-Truck los, der an 67 Orten in Europa stoppen wird. Was will die reformierte Kirche mit solchen Events erreichen?
Die Reformation war eine umwälzende Idee, die Europa verändert hat. Der Reformations-Truck wird in den nächsten Monaten 25'000 Kilometer zurücklegen. Es ist uns wichtig, zu zeigen, dass die Reformation nicht an der Grenze endete, sondern dass sie ganze Länder, die Bevölkerung und die Kulturen in den verschiedensten Gebieten verändert hat. Dieser Lastwagen zeigt das sinnbildlich über alle Grenzen hinweg.
Vor 500 Jahren spaltete sich die Kirche in Protestanten und Katholiken. Seitdem zieht sich dieser Graben durch die Christenheit. Wie ist das Verhältnis zwischen den Konfessionen heute?
In den 500 Jahren hat sich vieles verbessert. Wir haben in der Schweiz einen engen Kontakt und einen guten Austausch zwischen Katholiken und Protestanten. Für die meisten Menschen spielt dieser Unterschied keine bedeutende Rolle mehr. Aber wir wollen nicht da stehenbleiben. Die Reformation ist nicht statisch. Es geht weiter. Und auf diesem Weg wollen wir uns weiter annähern.
Calvin, Zwingli und Luther waren strenge Männer mit rigiden Moralvorstellungen. Was haben sie uns heute noch zu sagen?
Die Idee der persönlichen Verantwortung und der persönlichen Freiheit, die Idee, dass die Menschen alle gleich sind vor Gott, dass wir keine Unterschiede machen sollen: Diese Idee ist zeitlos. Sie hängt auch nicht an Jahrhunderte alten Moralvorstellungen. Wir sollten diese Idee unbedingt bewahren. Sie hat auch die Schweiz verändert. Die Reformation hat bei uns dazu geführt, dass man darüber nachdachte, wie alle Menschen Bildung bekommen, wie sie in die demokratischen Prozesse eingebunden werden. Diese Idee muss weitergetragen werden.
Was erhoffen Sie sich als oberster Reformierter der Schweiz vom Reformationsjahr?
Ich wünsche mir, dass der Funke in diesem Jahr und auch in den folgenden Jahren überspringt, dass diese Idee nicht verlorengeht, und dass wir in den Kantonen darüber nachdenken. Denn es ist eine Idee, die uns guttut – nicht nur der Kirche, auch dem Staat und der Gesellschaft.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.