Im Gespräch mit der «Tagesschau» äussert sich die ehemalige Aussenministerin zu den Schwierigkeiten während der laufenden Verhandlungen mit der EU über die Steuerung der Migration, wie es die Schweizer Stimmbevölkerung entschieden hat.
SRF News: Micheline Calmy-Rey, wo sehen sie den grösste Knackpunkt bei diesen Verhandlungen?
Micheline Calmy-Rey: Das Dilemma für die Schweiz ist, festzustellen, welchen politischen Preis das Land zu zahlen bereit ist, um weiterhin freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu erhalten und die bilateralen Verträge zu retten.
Könnte denn dieser «Inländervorrang light» eine Grundlage sein für eine mögliche Lösung mit Brüssel?
Diese Lösung hat einige Vorteile: Erstens weil sie das Freizügigkeitsabkommen nicht verletzt und vor allem, weil es der Schweiz Zeit gibt. Und zudem können wir die Frage nach der Personenfreizügigkeit abkoppeln von der Frage eines institutionellen Rahmenabkommens mit der EU.
Ist diese sehr milde Umsetzung ohne Kontingente und ohne Höchstzahlen bei der Zuwanderung verfassungsrechtlich nicht ein Problem?
Wir müssen wissen, welcher Konsens bei der parlamentarischen Beratung im Nationalrat und im Ständerat herauskommt. Hier stellt sich die Frage, ob die bilateralen Verträge mit der EU und oder die Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung bevorzugt werden sollen.
Das Wichtigste für die Schweiz ist, die EU nicht zu provozieren. Das heisst, keine Massnahmen zu ergreifen, die von der EU als offensichtliche Gegenposition zum freien Personenverkehr betrachtet werden könnten. Das ist wie die Quadratur des Kreises. Denn wir sind ja nicht die einzigen, die in diesem Dilemma stecken. Grossbritannien geht es genau gleich. Wir müssen mit der EU nichts überstürzen und können jetzt schauen, was mit Grossbritannien passieren wird.
Was halten Sie von der Reaktion der EU-Kommission auf die Vorschläge der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats eines «Inländervorrangs light»?
Ich denke, dass die EU grosse Augen des Erstaunens gemacht hat, weil die Schweiz plötzlich sehr, sehr sanfte Massnahmen festgelegt hat. Ich verstehe die Reaktion der EU-Kommission, denn sie möchten mit der Schweiz ein geregeltes Rahmenabkommen haben, bevor man mit Grossbritannien über den Brexit verhandelt. Damit soll Grossbritannien auch gezeigt werden: Wenn man ein Drittstaat ausserhalb der EU ist, erhält man nichts.
Grossbritannien ist für die EU ein extrem wichtiger Wirtschaftspartner. Und ich glaube nicht, dass es in der EU eine Mehrheit für einen zu harten Umgang mit Grossbritannien beim Austritt gibt. Man will die Briten im gemeinsamen Markt behalten. Aber auch wenn Herr Juncker «ausruft», die Schweiz hat viel Interesse daran, einmal abzuwarten und zu schauen, was mit Grossbritannien passiert. Denn der Brexit ist auch sehr stark verbunden mit der Migrationsfrage in der EU.
Die Debatte rund um den Brexit hat den Vorteil, dass die EU gezwungen ist, ihre institutionellen Positionen für sich zu klären, vor allem im Umgang mit Mitgliedstaaten, die mehr oder weniger europäische Integrationspolitik wünschen. Wenn diese Fragen nämlich nicht gestellt werden, riskiert die EU einen internen Bruch.
Wird die EU weiterhin an ihrer Forderung eines Rahmenabkommens festhalten, auch wenn sie der Schweiz keine Konzessionen machen muss mit dem «Inländervorrang light»?
Die EU wird ihre Position beibehalten und zwar in ihrer Logik von «alles zur gleichen Zeit und alles in der gleichen Art und Weise». Man ist entweder drinnen oder man ist draussen. Und darin liegt die Gefahr eines Bruches, wenn es Differenzen gibt in den institutionellen Positionen der Mitglieder. Aus diesem Grund hat die Schweiz ein Interesse zu warten. Und darum ist der Vorschlag «light» so interessant, weil er der Schweiz mehr Zeit verschafft um zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln.
Das Gespräch mit Micheline Calmy-Rey führte Alexandra Gubser auf französisch.