SRF News: Eine repräsentative Studie im Auftrag der Sterbehilfeorganisation Exit bei über 50-Jährigen hat ergeben, dass sich mehr als 60 Prozent wünschen, von ihrem Arzt über Sterbehilfeorganisationen informiert zu werden. Überrascht Sie diese hohe Zahl?
Roland Kunz: Nein, eigentlich nicht. Viele Menschen machen sich Gedanken, welchen Weg sie gehen wollen. Gerade auch, wenn sie eine schlechte Diagnose bekommen haben. Für mich stellt sich hier die Frage, welche Erwartung an den Arzt mit diesem Studienresultat gestellt wird: Soll der Arzt dies aktiv ansprechen oder soll der Patient dies ansprechen können? Das wird meiner Meinung nach nicht ganz klar.
Allgemein sticht für mich aus dieser Studie heraus, dass die Menschen die Erwartung haben, dass sie von ihrem Arzt frühzeitig, ehrlich und vorausschauend beraten werden: Was kann während einer Krankheit auftreten, welche Möglichkeiten gibt es für den Patienten – und was will er? Diese Themen müssen laufend angesprochen werden, möglicherweise über Jahre hinweg. Und dabei kann Suizidhilfe ein Puzzlestein sein.
Sie arbeiten als Palliativmediziner: Wie handhaben Sie dies?
Wir führen Gespräche mit den Patienten und ihren Angehörigen und sprechen dort offen Themen an wie den Krankheitsverlauf, die Erwartungen, das Sterben und den Tod. Dabei hat sich gezeigt, dass dies für Angehörige wie Patienten sehr befreiend sein kann. Oft trauen sie sich gegenseitig nicht, diese Themen anzusprechen, weil sie sich schonen wollen. Wenn man die Fragen in den Raum stellt, merken sie, dass beide Seiten darüber sprechen wollen.
Und beim Thema Sterbehilfe?
Wir fragen die Patienten gleich zu Beginn, ob sie eine Patientenverfügung haben oder Mitglied einer Sterbehilfeorganisation sind. Bejahen sie dies, fragen wir warum und können so darauf eingehen, was der Patient sich wünscht, wovor er sich fürchtet und unsere Möglichkeiten aufzeigen. Verneint er, können wir auch dort individuell auf die Ängste und Wünsche eingehen. Es hat sich gezeigt, dass dies ein guter Einstieg in ein Gespräch über das Sterben bei chronischer, unheilbarer Krankheit ist.
Viele haben nämlich Angst vor Schmerzen oder davor, am Ende ersticken zu müssen. Hier können wir aufzeigen, dass wir ihnen mit der Palliativmedizin die Schmerzen nehmen und sie mit einer Sedation auch davor bewahren können, einen Erstickungstod wahrzunehmen. Keiner unserer Patienten, der Mitglied einer Sterbeorganisation ist, hat sich wegen Symptomen zu einem Freitod entschieden. Wer dies wollte, tat es, weil er auf keinen Fall auf andere angewiesen und nur solange am Leben sein wollte, wie er selbstständig bleiben konnte.
Sie haben täglich mit Menschen zu tun, die bald sterben werden. Die Studie zeigt aber, dass sich viele diese Auseinandersetzung mit ihrem Hausarzt wünschen. Fehlt es dort an Bereitschaft dazu?
Viele Hausärzte sind aus der gleichen Generation wie ich – also um die 60. In meiner Ausbildung habe ich keinen Chefarzt erlebt, der das Thema Sterben und Tod offen ansprach. Es wurde gar umschifft, wenn Patienten sagten, es gehe ihnen schlechter. Da die Hausärzte den Umgang mit diesen Fragen nicht gelernt haben, fühlen sich viele unsicher. Die junge Generation – das sehe ich bei meinen Vorlesungen – ist aber anders. Sie lernen, die Hürden zu überschreiten und sehen, wie befreiend das für den Patienten sein kann.
Sind Sie dafür, dass Ärzte Sterbehilfe mit ihren Patienten zum Thema machen?
Ganz klar, wenn der Patient das wünscht. Es geht darum, seine Selbstbestimmung zu stärken. Das kann nur geschehen, wenn er sämtliche Möglichkeiten kennt. Dies heisst aber nicht, dass jeder Hausarzt ihm eine profunde Beratung zum Thema anbieten muss, sondern ihn vielleicht an eine andere Stelle weiterverweist.
Die Studie zeigt auch, dass sich über 70 Prozent mehr Orientierung zur Palliativmedizin wünschen. Fehlt es auch da an Informationen?
Das ist ganz klar so. Wenn jemand die Diagnose einer Krebserkrankung mit Metastasen bekommt, so wird ihm in 95 Prozent der Fälle eine Chemotherapie mit vielen Nebenwirkungen verschrieben. Auch wenn dies das Leben des Patienten vielleicht um drei Monate verlängert. Darüber, dass es auch eine Alternative ohne agressive Medikamente gibt, die die Lebensqualität in den letzten Monaten ins Zentrum stellt, wird praktisch nicht informiert.
Woran liegt das?
Das liegt einerseits daran, dass viele Ärzte zu wenig über Palliativmedizin wissen. Für viele ist dies einfach die Morphiumspritze vor dem Tod. Andererseits sehe ich aber auch ein Problem bei den Medien: Über den selbstbestimmten Freitod – man denke an This Jenny – wird fast schon in einem heroischen Ton berichtet, à la «das ist ein Mann, der eine mutige Entscheidung trifft». Über einen Patienten, der den Tod mit der gleichen Krankheit gelassen auf sich zukommen lässt, wird nicht berichtet. Das ist einfach zu wenig sexy.