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Ein Mädchen mit Baseballmütze streichelt ein Schaf durch ein Gitter.
Legende: Drittklässlerin Alessia ist beim Jubiläumsanlass auf dem Chleehof im bernischen Kirchberg dabei. Keystone

Schweiz Zum Anfassen: Das Schulzimmer im Grünen feiert Jubiläum

Wie fühlt es sich an, wenn einem ein Kalb die Hand leckt? Jedes Kind soll das im Laufe seiner Schulzeit einmal selber erleben. Das ist seit 30 Jahren Ziel des pädagogischen Projekts «Schule auf dem Bauernhof». Allein letztes Jahr haben über 35'000 Schulkinder rund 400 Schweizer Bauernhöfe besucht.

«Es frisst mich, es frisst mich!», kreischt ein Schüler. Er heisst Gian. Er hatte nur seinen Zeigefinger hingehalten. Jetzt steckt plötzlich seine ganze rechte Hand im Maul des grauen Kälbleins. Doch keine Angst – es ist nichts passiert.

«Es leckt das Salz von meiner Hand, das kitzelt», meint Gian. Er hat etwas erlebt; hautnah und nicht nur vom Hörensagen. Draussen vor dem Stall sagt Beat Zemp, der oberste Schweizer Lehrer: «Man weiss seit Beginn der Reformpädagogik, dass das, was man selber macht, wirklich haften bleibt. Das, wovon man nur hört, lernt man zu etwa 20 Prozent. Den Rest vergisst man.»

Anfänglich bloss eine Werbeveranstaltung

Beim Projekt «Schule auf dem Bauernhof» gilt das übliche «Berühren verboten» nicht. Im Gegenteil. Und hier soll auch gefragt werden – alles. Beim Posten «Kuh» zum Beispiel will ein Schüler wissen: «Wenn der Doktor eine Hand ins Füdli der Kuh steckt, was macht er dann genau?» «Manchmal kommt es bei einer Geburt zu einer Fehllage des Kalbs. Dann muss man es drehen», antwortet der Bauer.

Walter Dardel, der geistige Vater von «Schule auf dem Bauernhof» (Schub), erinnert sich: Mitte der Achtzigerjahre habe eine Handvoll Seeländer Bauern anfänglich bloss etwas Werbung für die eigenen Produkte machen wollen. «Das hat sich dann geändert, und wir haben gesagt, wir müssen auch zeigen, wie man das macht.»

Noch vor zwei Generationen hätten alle Wurzeln in einem Bauernbetrieb gehabt: «Einen Grossvater oder Onkel, der Landwirtschaft betrieben hat. Das ist heute nicht mehr so», sagt Res Aeschbacher, der Schub-Projektleiter auf Bauernseite. «Noch etwa zwei Prozent sind in der Landwirtschaft tätig. Die anderen sind weit weg. Sie kennen das Essen nur aus dem Laden. Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, den Schülern diese Türe aufzutun und zu sagen, kommt und schaut.»

«Wir machen keine Bauernhof-Safari»

Zusammen mit den Lehrkräften wird die Schule auf dem Bauernhof vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet. Dardel sagt: «Wir machen keine Bauernhof-Safari, damit sie kommen und sagen, ist das schön. Sie müssen etwas mitnehmen.»

Sie könne Dinge, die sie mit ihren Schülern in der Schule vorbereite, hier vertiefen. Das sei alles sehr faszinierend, sagt Lehrerin Maria Rindlisbacher: «Die Begegnung mit dem Original, Kartoffeln setzen, mosten, der Kreislauf des Gartens, das ganze Jahr immer wieder hingehen und sehen, was daraus geworden ist.»

Die Chleehof-Bauersleute Annemarie und Bernhard Lüthi erzählen von staunenden Schülern, die erstmals einen Hof betreten. «Wenn man sie fragt, woher die Milch kommt, dann kommt sie von Coop und Migros, nicht von der Kuh.» Das klingt nach einem Klischee. Doch Frau Lüthi bestätigt: «Nein, das ist kein Witz. Ich denke, es gibt keinen grossen Unterschied zwischen der Stadt und der Umgebung von hier. Weil viele hier den Bezug zur Landwirtschaft eben auch nicht mehr haben.»

Wenn man sie fragt, woher die Milch kommt, dann kommt sie von Coop und Migros, nicht von der Kuh.
Autor: Annemarie Lüthi Bäuerin

Fragt man die Schüler auf dem Chleehof, was denn ein Bauer sei, sagt ein Bub: «Für mich ist das ein Macher, der sehr viel Milch macht.» Und ein anderer findet, das sei «einer der chrampfet, so dass wir an einen Ort, zum Beispiel die Migros, hingehen können und Kartoffeln kaufen. Das macht er alles.» Wenn das der Johann Heinrich Pestalozzi hören könnte: Auf diesem Hof im bernischen Kirchberg hatte der grosse Schul- und Sozialreformer vor 250 Jahren selbst das Bauern gelernt.

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