Krieg – und das plötzlich ganz nah. Das beschäftigt auch in der Schweiz viele: Sie zeigen ihre Solidarität mit der Ukraine und dem Schicksal der Menschen im Land. Gleichzeitig macht sich aber auch ein Gefühl von Unsicherheit breit, oder gar Angst. Was das mit den Menschen macht, erklärt Soziologin Katja Rost von der Universität Zürich.
SRF: Woher kommt die Angst in der Schweiz und in Westeuropa vor diesem Krieg?
Katja Rost: Das hat viel damit zu tun, dass es vor unserer Haustür passiert, dass die Ukraine als westliches Land mitten in Europa wahrgenommen wird. Das lässt sich nicht einfach wegschieben. Da ist eine extreme kulturelle und geografische Betroffenheit. Hinzu kommt, dass die Demokratie im Herzen getroffen wird. Bislang wähnten sich viele Menschen sicher, dass die Demokratie ein recht stabiles Modell ist.
Welche Rolle spielt der Überraschungseffekt?
Aus unserer westlichen Perspektive hat man dieses Vorgehen von Putin nicht erwartet. Hier werden moralische Grenzen überschritten, die in unserem Verständnis klare rote Linien sind. Man dachte, diese Art des Handelns gehöre der Vergangenheit an – zumindest in Europa.
Aus unserer westlichen Perspektive hat man dieses Vorgehen von Putin nicht erwartet. Hier werden moralische Grenzen überschritten, die in unserem Verständnis klare rote Linien sind.
Erleben manche Menschen eine Art Flashback?
Wir haben lange Zeit eine Wohlfühldiskussion geführt – ohne diesen Begriff zu werten. Es ging um Fragen der Diversität, des Klimaschutzes, der Pandemiebewältigung. Das waren die grossen Fragen. Und jetzt kommen auf einmal wieder die ganz grossen Fragen auf uns zu, von denen jeder gedacht hat, die seien beantwortet. So lange her ist es aber nicht: Die Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges aber auch der Umbruch in den Oststaaten in den Neunzigern sind bei vielen Leuten noch sehr lebendig. Viele Menschen fühlen sich jetzt zurückversetzt.
Wir sind von der Pandemie direkt in diese kriegerischen Zeiten gekommen. Worin unterscheiden sich diese Ereignisse in Punkto Angst?
Das muss man differenziert sehen. Zum Einen überschlagen sich heutzutage die medialen Grossereignisse. Das hat mit der informatorischen Globalisierung zu tun. Man ist auf Negativ-Meldungen erpicht, weil diese sehr viel Aufmerksamkeit erregen. Insofern: Wäre es jetzt nicht der Ukraine-Krieg als grosses Medienereignis, wären es die Überschwemmungen in Australien oder der Klimareport gewesen. Wir schlittern heutzutage im Normalfall von einem Negativ-Ereignis ins nächste. Wir sprechen deswegen auch von Risikogesellschaft.
Und zum Andern?
Zum Andern können solche Risiken auch globale Gemeinschaften bilden. Hier unterscheidet sich der Krieg von der Pandemie, bei der wir eine sehr starke Polarisierung der Schweizer Gesellschaft hatten. Beim Ukraine-Konflikt steht die Schweizer Gesellschaft sehr dicht beieinander. Es schweisst zusammen – so tragisch wie das ist.
Mit Social-Media kommen wir nahezu in Echtzeit zu Informationen aus der Ukraine. Verstärkt das die Angst?
Ja, definitiv, zumal es sehr emotionale Bilder sind, die gesendet werden. Auch hier gilt: emotionalisierte und negative Bilder erregen Aufmerksamkeit. Dadurch werden Ängste verstärkt. Hinzu kommt, dass die Inhalte häufig ungeprüft sind und es «Fake News» gibt, die die Ängste verstärken und ausnutzen.
Man muss nach dem anfänglichen Schockzustand damit beginnen, mit den neuen Umständen zu leben und danach zu handeln.
Wird unsere Angst mit Fortschreiten des Krieges weniger?
Prinzipiell ist ein gewisser Gewöhnungseffekt immer dabei. Ansonsten wären wir komplett handlungsunfähig, auch als Gesellschaft. Und auch in der Ukraine wären die Leute hypnotisiert vor Angst, so ist es nicht. Man muss nach dem anfänglichen Schockzustand damit beginnen, mit den neuen Umständen zu leben und danach zu handeln.
Das Gespräch führte Noëmi Ackermann.