Der Bundesrat ist im bisherigen Verlauf der Pandemie fast immer einen eigenen Schweizer Weg gegangen – einen Weg mit weniger Schutzmassnahmen und leichteren Einschränkungen als in anderen Ländern.
Einige Male erwies sich dieser Weg als riskant und falsch (was der Bundesrat im Fall des Herbsts 2020 auch selbst zugegeben hat). Einige Male war er genau richtig. So im Frühling dieses Jahres, als die Regierung gegen viele Widerstände Lockerungen beschloss und mit dieser optimistischen Strategie erfolgreich war.
Kantone sind auf sich gestellt
Es scheint so, als ob wir wieder an einem dieser Wegpunkte stehen. Diverse Nachbarländer reagieren auf die rasant steigenden Infektionszahlen mit drastischen Einschränkungen: Lockdown für Ungeimpfte in Österreich, 2G-Regeln in Bayern, um nur zwei Beispiele zu nennen. Derweil macht der Bundesrat in der Schweiz – nichts. Zumindest nichts Öffentliches.
Gestern hat er das erste Mal seit sehr langer Zeit keine Medienkonferenz nach einer Bundesratssitzung abgehalten. Das, obwohl der Informationsbedarf der Öffentlichkeit deutlich höher war als auch schon.
Heute hat Gesundheitsminister Alain Berset an einem Auftritt mit Lukas Engelberger von der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren vor allem die Kantone in die Pflicht genommen: Sie sollen mehr Betten in den Intensivstationen zur Verfügung stellen und wo nötig schärfere Schutzmassnahmen ergreifen.
Analogien zu letztem Oktober
Im Übrigen, so Berset, beobachte man die Situation weiter und hoffe, dass die bestehenden Massnahmen ausreichen, um die Situation zu kontrollieren.
Das erinnert an den Beginn der zweiten Welle vor ziemlich genau einem Jahr. Am 28. Oktober 2020 hatte der Bundesrat angesichts rasant steigender Inzidenzen gewisse Einschränkungen beschlossen, den Kantonen aber weiterhin einen recht grossen Handlungsspielraum gelassen. Einige Wochen später musste er die Schraube dann deutlich anziehen und «das Zepter wieder in die Hand nehmen», wie es die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga formulierte.
Blick zurück verheisst nichts Gutes
Der Bundesrat verzichtet im Moment auf schärfere Massnahmen, weil die Situation in den Spitälern und vor allem auf den Intensivstationen unter Kontrolle sei. Das mag für den Moment stimmen. Doch auch hier verheisst ein Blick zurück nichts Gutes.
Ende Oktober letzten Jahres lagen auf den Intensivstationen der Schweiz knapp 150 Covid-Patientinnen und Patienten – gleich viele wie heute. Es dauerte dann aber weniger als einen Monat, bis mit über 500 Patientinnen und Patienten der Höchststand in der Pandemie erreicht wurde und dies die Intensivstationen an den Rand der Überlastung und darüber hinaus brachte.
Natürlich gab es damals noch keine Impfung. Aber heute ist die viel gefährlichere Delta-Variante im Umlauf, und auf den Intensivstationen liegen primär Ungeimpfte.
Es gibt also wenig Grund, anzunehmen, dass die Dynamik anders verlaufen sollte. Es braucht deshalb wenig Fantasie, um vorauszusagen, dass der Bund schon bald wieder «das Zepter in die Hand nehmen» und gesamtschweizerische Verschärfungen ankündigen muss.