Der Bundesrat schafft es einmal mehr, am Schweizer Sonderweg festzuhalten. Er beschliesst weder eine allgemeine 2G-Pflicht noch einen Lockdown, sondern eine Reihe von leichteren Massnahmen, die sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte betreffen. Doch die Lage ist – in den Worten des Gesundheitsministers – «sehr kritisch».
Dass die Schweiz mit den neu beschlossenen Massnahmen eine Überlastung der Spitäler verhindern kann, wäre wünschenswert. Realistisch erscheint es jedoch mit Blick auf den Personalmangel auf vielen Intensivstationen eher nicht. Deutschland und Österreich haben in einer ähnlichen Situation eine umfassende 2G-Regel respektive einen Lockdown beschlossen.
«Unangenehme Schritte» könnten folgen
Auf mögliche weitere Schritte angesprochen, sagte Alain Berset in der Medienkonferenz am Freitag: «Der nächste Schritt ist ziemlich unangenehm. Das sind schärfere Massnahmen. Und wir haben darüber nicht diskutiert.» Der nächste Schritt – sofern es ihn braucht – wird jedoch nicht nur unangenehm. Sondern er ist auch grundsätzlicher Art.
Laut Berset befinden wir uns noch immer in der «Normalisierungsphase». Doch die Pandemie beherrscht das Leben wieder Tag für Tag stärker. Das bringt den Gesamtbundesrat in eine schwierige Lage. Denn sein Versprechen für diese Phase war im Frühling klar: Falls erneute Einschränkungen nötig werden, sollten Geimpfte nicht davon betroffen sein.
Einiges hat sich seit dem Frühling geändert: Omikron sorgt für Unsicherheit und es hat sich gezeigt, dass die Impfung mit der Zeit nicht mehr gleich zuverlässig vor einer Ansteckung schützt. Doch eines gilt weiterhin: Das Risiko, dass Geimpfte auf der Intensivstation landen, ist deutlich tiefer als bei Ungeimpften. Und weil es das erklärte Ziel des Bundesrats ist, die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern, bleibt dieser Faktor zentral. Somit lässt sich eine Unterscheidung bei den Schutzmassnahmen weiterhin rechtfertigen.
Spielraum für Kompromisse schrumpft
Bei seinem heutigen Entscheid verzichtet der Bundesrat aber teilweise auf eine solche Unterscheidung. Die Maskenpflicht am Arbeitsplatz gilt für alle. Gleichzeitig öffnet die Regierung ein Schlupfloch für Geimpfte. In Clubs, Bars oder Kinos können die Masken- und Sitzpflicht umgangen werden – sofern 2G gilt. Ein gutschweizerischer Kompromiss also.
Doch der Spielraum für Kompromisse dürfte nun aufgebraucht sein. Wird eine Impfpflicht weiterhin ausgeschlossen – was sehr wahrscheinlich scheint – bleiben im Wesentlichen zwei Optionen. Option eins: Der Bundesrat hält an seinem ursprünglichen Plan fest, dass Einschränkungen nur Ungeimpfte betreffen. Und beschliesst eine umfassende 2G-Pflicht. Option zwei: Er erklärt die Normalisierungsphase für gescheitert, beerdigt die dazugehörigen Konzepte und leitet einen (Teil-) Shutdown für alle ein.
Dass Berset diesen Entscheid als «ziemlich unangenehm» bezeichnet, erstaunt wenig. Erstaunlich ist vielmehr, dass der Bundesrat nicht frühzeitig über den nächsten Schritt diskutiert.