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Schweizer Spitalkrise «Wir müssen zu einer Struktur mit weniger Spitälern kommen»

Das Kinderspital Zürich und das Spital Wetzikon sind in finanzieller Schieflage. Vor zwei Jahren waren die Spitäler Affoltern und Uster bedroht. Auch in Bern, St. Gallen und andernorts verzeichnen Spitäler Millionendefizite.

Warum sind die Spitäler so defizitär? Und was müsste man tun? Der Gesundheitsökonom Tilman Slembeck erklärt es.

Tilman Slembeck

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Tilman Slembeck ist Gesundheitsökonom an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW.

SRF News: Wo «knorzt» unser Gesundheitssystem?

Tilman Slembeck: Das Problem ist das Verantwortungsvakuum. In vielen Bereichen sind die Tarifpartner verantwortlich. Das sind die Ärzteschaft, die Leistungserbringer und auf der anderen Seite die Krankenkassen. Sie müssen sich einigen. Doch in vielen Fragen können sie das nicht, weil es kontroverse Interessen gibt. Wenn der Kuchen nicht ewig wächst, dann kommt es zu Verteilungskonflikten und es wird schwierig. Wir haben kein Gesundheitsgesetz in der Schweiz, das solche Dinge regelt.

Wir müssen zu einer Struktur kommen, in der es weniger Spitäler hat.

Daran krankt also das System?

Natürlich. Jeder Kanton hat ein Gesundheitsgesetz, ausser der Bund. Er hat ein Versicherungsgesetz. Es ist, als würde man Landwirtschaftspolitik mit der Hagelversicherung machen.

Die Spitäler kommen immer mehr finanziell an den Anschlag. Wo liegt das Hauptproblem, unabhängig von gesetzlichen Grundlagen?

Es ist eine gewollte Systembereinigung im Gange, in der man Mittel heruntergefahren hat. Die Kantone können über die Fallpauschalen­finanzierung nicht mehr bewilligen, was sie wollen. Damit kommen die Spitäler nicht mehr aus.

Das Richtige wäre, wenn die Gemeinden die Regionalspitäler übernehmen würden. Sie hätten den Nutzen, müssten aber auch die Defizite tragen.

Wie löst man dieses Problem?

Wir müssen zu einer Struktur kommen, in der es weniger Spitäler hat. Das heisst aber nicht weniger Behandlungen oder Betten, sondern, dass es keine kleinteilige Struktur mehr gibt, die sowohl teuer als auch – aus medizinischer Sicht – qualitativ nicht gut ist.

Rote Zahlen bei Regionalspitälern: weitere Gründe

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Regionalspital Wetzikon, aufnahme von draussen im Sonnenschein, davor eine Wiese voller blühendem Löwenzahn.
Legende: Das Spital in Wetzikon steht in finanzieller Schieflage. KEYSTONE/Christian Beutler

Für Slembeck sind Regionalspitäler in der Regel nicht sehr effizient, kleinräumig und damit relativ teuer. Sie müssten sich anderen Regionalspitälern um das knappe Personal und die fehlenden Fachleute im Gesundheitswesen streiten. Letztlich sei auch die Erbringung medizinischer Leistungen für kleinere Spitäler sehr schwierig, weil sie nicht genügend Fälle hätten. «Dadurch sind sie einem Strukturwandel unterworfen», sagt Slembeck. Sie müssten sich zusammenzuschliessen zu grösseren, effizienteren Einheiten, um kostengünstiger arbeiten zu können.

Aber die Leute wollen nicht weniger Spitäler.

Weil sie es bis jetzt nicht bezahlen mussten. Das Richtige wäre, wenn die Gemeinden die Regionalspitäler übernehmen würden. Sie hätten den Nutzen, müssten aber auch die Defizite tragen. Die Leute könnten an der Urne darüber befinden, ob sie ihr Spital behalten wollen.

Hand aufs Herz: Haben wir das Problem in 15 Jahren gelöst?

Prognosen sind schwierig und ich mache sie höchst ungern. Doch ich glaube, die Kantone haben ein enormes Beharrungsvermögen, solange sie finanziell so stark involviert sind und sie Hauptbesitzer der Spitäler sind. Rund 80 Prozent der Spitäler sind in öffentlicher Hand. Deshalb sehe ich in 15 Jahren keine grosse Veränderung. Wir müssen zu einem neuen System kommen, in dem die Kantone eine viel kleinere Rolle spielen. Das sehe ich momentan nicht.

Die Umverteilungsvorlagen sind schlimm, weil sie nicht die Ursache, sondern die Symptome bekämpfen.

Was braucht es dafür?

Weniger Geld. Solange so viel Geld im System ist, gibt es keine Anreize. Alle Player verdienen gut im heutigen System, ausser die Prämienzahlerinnen und -zahler, die sich im Herbst bei einer nächsten Prämienerhöhung beklagen und die Medien aufschreien. Immerhin ist es eine der grössten Sorgen von Herr und Frau Schweizer. Aber das muss noch viel mehr eskalieren, bevor wirklich ein Wandel stattfindet.

Wir werden also in 15 Jahren das gleiche Interview miteinander führen?

Wenn die Prämien nicht nochmals massiv steigen und nicht so verheerende Umverteilungsvorlagen angenommen werden. Wir stimmen ja dieses Jahr noch über zwei Vorlagen ab und mindestens bei einer geht es darum, den Druck aus dem Kessel zu nehmen und ihn anders zu verteilen. Darum sind diese Vorlagen so schlimm, weil sie nicht die Ursache, sondern die Symptome bekämpfen. Bei einem Ja würde der Systemdruck sinken und wir noch in 35 Jahren hier sein.

Das Gespräch führte Pascal Schumacher.

10vor10, 05.04.2024, 21:50 Uhr ; 

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