Eine laufende Nase, ein Kratzen im Hals. Vielleicht ist es eine Herbst-Erkältung, eine leichte Grippe – oder eben Covid. Aber der Gang ins nächste Testzentrum ist für viele in der Schweiz nicht mehr das Dringendste. Wurden an Spitzentagen während der Pandemie täglich über 100'000 Tests durchgeführt, sind es heute ungefähr 10'000.
Deswegen werden viele Infektionen nicht erfasst. Zwei Hinweise sprechen für eine hohe Dunkelziffer: Die Positivitätsrate, die zeigt, wie viele der Tests positiv ausfallen. Aktuell liegt sie bei über 40 Prozent. Schon bei über fünf Prozent geht die Wissenschaft davon aus, dass nicht mehr alle Infektionen erfasst werden.
Virus-Konzentration im Abwasser steigt
Der zweite Hinweis auf eine hohe Dunkelziffer sind die Abwassermessungen, die seit Januar 2022 in 110 Kläranlagen der ganzen Schweiz regelmässig durchgeführt werden. Gemäss einer Auswertung von SRF Data steigt seit Ende August die Konzentration wieder an. In 91 Kläranlagen wurde das Virus festgestellt, bei einem Viertel der Messstationen ist die Virenlast stark steigend.
Das sind Belege, dass sich längst nicht mehr alle testen lassen, die Covid-Symptome zeigen. «Ich gehe davon aus, dass die Dunkelziffer momentan sehr hoch ist», bestätigt die ETH-Wissenschaftlerin und ehemalige Covid-Taskforce-Chefin Tanja Stadler: Im Herbst/Winter 2020 lag sie bei knapp drei. Aktuell werde deutlich weniger getestet, womit eine Dunkelziffer von vier bis sechs plausibel sei. Bei 5000 positiven Tests wären dies 20'000 bis 30'000 Infektionen am Tag.
Bei einer aktuellen Dunkelziffer von 4 bis 6 oder möglicherweise gar 7 sind wir sehr ungenau.
Dunkelziffer mit Folgen für Infektionsgeschehen
Stadler relativiert mögliche Probleme für das Pandemie-Management durch die hohe Dunkelziffer: Änderungen in den Trends könnten dank der bestätigten Fälle unter Berücksichtigung der Dunkelziffer, der Hospitalisierungen und der Abwasserwerte relativ gut festgestellt werden. Die absolute Zahl der Infektionen sei allerdings nur grob abschätzbar: «Bei einer aktuellen Dunkelziffer von vier bis sechs oder möglicherweise gar sieben sind wir sehr ungenau.»
Ein Blindflug mit gar keinen Daten ist es nicht. Wir wissen über die Veränderungen, dass eine Herbstwelle kommt.
Die hohe Dunkelziffer habe auch Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen selber: «Indem viele Leute nicht mehr wissen, dass sie infiziert sind, ungeschützt an Veranstaltungen gehen und potenziell viele Menschen infizieren.»
Ein Blindflug mit gar keinen Daten sei es aber nicht, erklärt Stadler: «Wir wissen jetzt über die Veränderungen, dass es zu einer Herbstwelle kommt.» Momentan liege der R-Wert – also die Dynamik, wie viele Menschen angesteckt werden – bei rund 1.2 wie bei der Sommerwelle. Eine entsprechende Dynamik werde in den nächsten Wochen herrschen.
Hat die Krankheit an Schrecken verloren?
Sicher sei die Schweiz jetzt in einer anderen Situation als vor zwei Jahren, sagt Stadler: «Es gibt eine Impfung und die Geimpften haben ein sehr stark reduziertes Risiko für einen schweren Verlauf.» Das habe zur Folge, dass deutlich mehr Infektionen einfach akzeptiert würden. Dies wiederum berge die Gefahr von sehr vielen Krankheitsfällen und allfälligen Langzeitfolgen.