-
Bild 1 von 9. Die heidnischen Kulturen zeichneten ein ambivalentes Wolfsbild. Romulus und Remus als mythische Gründerväter Roms stehen neben dem grimmigen Bösewicht griechischer Sagen. Bei den alten Germanen symbolisierte «Isegrim» («Eisenhelm») Kraft, Mut und Treue – und die dunklen Mächte. Bildquelle: Reuters.
-
Bild 2 von 9. Fest steht: Seit der Mensch sesshaft geworden ist und Nutztiere hält, ist es vorbei mit dem trauten Nebeneinander. Die Bergpredigt warnt: «Hütet euch vor den falschen Propheten. Sie kommen zu euch in Schafskleidern, inwendig aber sind sie reissende Wölfe.» Der biblische Bannstrahl legitimiert für Jahrhunderte die Verfolgung des Wolfes. Bildquelle: Reuters.
-
Bild 3 von 9. Der Wolf im Schafspelz lebt im Rotkäppchen weiter. Im mittelalterlichen Volksmärchen, das die Gebrüder Grimm 1812 neu auflegten, ist er nicht nur gefrässiger Bösewicht, sondern auch Triebtäter. In einer französischen Version von 1697 steigt das leichtgläubige Mädchen nackt zum bösen Wolf ins Bett, wird missbraucht und gefressen. Bildquelle: Illustration von Gustav Doré / Märchensammlung 19. Jahrhundert.
-
Bild 4 von 9. Mit der Inquisition nimmt der Menschenwolf weiter Gestalt an. Der französische Richter und Hexenverfolger Bodin schürt das Feuer der Scheiterhaufen: Es gebe keine Wölfe, nur Zauberer und Hexen in Menschengestalt. Ganz Europa vernimmt die Verteufelung – und bläst zur Jagd auf den Werwolf. Bildquelle: Lucas Cranach der Ältere (Holzschnitt von 1512).
-
Bild 5 von 9. Die Wolfsbekämpfung war seit jeher Chefsache. Schon Karl der Grosse (742–814) rief seine Untertanen zur erbarmungslosen Jagd auf. Wolfsjäger bildeten eigene Gilden und waren mit Privilegien ausgestattet. Der sagenhaft reiche Oberwalliser Unternehmer Kaspar Jodok von Stockalper (1609–1691) unterhielt einen regen Handel mit Wolfsfellen. Bildquelle: Keystone/Stockalperschloss in Brig.
-
Bild 6 von 9. Im 19. Jahrhundert entdeckte das Horror-Genre den «Werwolf» als dunkle, animalisch-triebhafte Seite des Menschen. Das Doppelgänger-Motiv findet sich bei Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886); oder auch in Hollywoods modernen Schockern, in denen der Mörder seine «Wolfsnatur» im Schatten der Nacht auslebt. Bildquelle: Reuters.
-
Bild 7 von 9. Die Nazis teilten die morbide Faszination für den Wolf. Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chefstratege des Holocaust, rief die Terrormiliz «Werwolf» ins Leben. Sie sollte aus dem Untergrund Jagd auf die Alliierten machen. Adolf (übersetzt: «edler Wolf») Hitler gab sich den Decknamen «Wolf». Das Führerhauptquartier nannte er «Wolfsschanze». Bildquelle: Reuters.
-
Bild 8 von 9. Mit dem Modernisierungsschub des 20. Jahrhunderts gehen Mensch und Natur getrennte Wege, der Wolf verschwindet als existenzielle Bedrohung. In absentia wird er zur fleischgewordenen Zivilisationskritik. Wieder da, holt sich der Rebell die Wildnis zurück, die ihm der Mensch entrissen hat – gelebte Biodiversität. Bildquelle: Reuters.
-
Bild 9 von 9. Weniger Freude haben diejenigen, in deren Mitte sich das Naturschauspiel vollzieht. Sie fordern Tierschutz für Schafe statt Artenschutz für den Wolf. Nun entscheidet Bundesbern über einen offiziellen Schiessbefehl – und einen Bruch mit der Berner Konvention von 1979, die den Wolf streng schützt. Bildquelle: Keystone.
Es ist eine andere Schweiz als heute. Doch im 19. Jahrhundert bricht die Moderne mit lautem Getöse über das Land herein. Der Ressourcenhunger der Industrialisierung verschlingt ganze Wälder. Sie werden stehend verkauft und kahlgeschlagen.
In den Alpen schrumpft die Waldfläche auf die Hälfte des heutigen Bestandes. Raubbau wird man es später nennen, die Menschen von damals sehen es anders: Sie beenden die Willkürherrschaft der Natur und machen sie Untertan.
Ihres Lebensraums beraubt und unkontrolliert bejagt sind Hirsch und Steinbock bis zur Mitte des Jahrhunderts ausgerottet; das Reh wird zum seltenen Gast in Schweizer Wäldern. In diesen Jahren verschwinden auch die letzten Wölfe. Mit knurrendem Magen oder einer Kugel im Kopf.
Der Erbfeind des Menschen
1853 veröffentlicht der Naturforscher, Theologe und St. Galler Ständerat Friedrich von Tschudi sein Standardwerk «Das Tierleben der Alpenwelt». Das blühende Leben, das er beschreibt, ist eine ferne Erinnerung. Auch Tschudis Wolfsbild speist sich aus der Überlieferung – und es fällt vernichtend aus.
Der Wolf sei der «entschiedenste Gegner des Menschen und seiner Kulturbestrebungen» setzt Tschudi an. Und in «gar kalten Wintern drang er bis in die neueste Zeit in die grossen Städte vor und hat dort Mensch und Tier zerrissen.»
Überhaupt mangelt es dem «alten Mörder» an allem Schönen und Erhabenen: «Er ist widerlich und unanständig in seinen Manieren, boshaft, gierig, verschlagen, misstrauisch, gehässig in seinem Naturell, und unerträglich durch seinen abscheulichen Gestank.» Am Wolf geht die Fackel der Aufklärung vorbei. Für Bildungsbürger Tschudi bleibt er ein Dämon.
Wiebald man einem Wolf gewahr wird, schickt man Sturm über ihn.
Und er wird erbittert bekämpft. Die obrigkeitlichen Jagdordnungen gaben der «Landplage» keine Schonfrist. Denn der graue Räuber war eine existenzielle Bedrohung für Schafe und Bauern. Wolfsrudel konnten, gerade in den Wintermonaten, das Überleben ganzer Dörfer gefährden.
Volkssport Wolfsjagd
Vor der Erfindung moderner Präzisionsgewehre war bei der Wolfsjagd Kreativität gefragt. Schon im frühen Mittelalter verendeten Wölfe qualvoll an köderbesetzten «Wolfsangeln». Andere wurden mit Schweineresten in metertiefe Gruben gelockt oder bei Treibjagden aufgespiesst.
Vom Vordach des Davoser Rathauses grinsten einst dreissig Wolfsköpfe herunter; für das Wallis sind üppige Prämien für jeden erschossenen Wolf belegt. Während der Hexenverfolgung richtete sich die Wolfs-Manie auch gegen den Menschen. 1623 wurde die Solothurner «Werwölfin» Elsbeth Loyne dem reinigenden Feuer übergeben – sie war eine von vielen.
Aus den Augen, in die Sinne
Doch erst die industrielle Vernichtung seiner Jagdgründe macht dem Wolf den Garaus. Und mit jedem gefällten Baum werden Geister vertrieben, eine mystisch aufgeladene Welt entzaubert: ein Exorzismus. Doch im dunklen, dunklen Wald hat sich ein Rest unzähmbare Natur bewahrt. Und sie lässt die Menschen schaudern: der böse, böse Wolf. Der Graue wandert ins Reich der Phantasie.
Das tief ins Mittelalter zurückreichende Volksmärchen vom Rotkäppchen porträtierte den Wolf als verschlagenen Kinderfresser – und Symbol für das Triebhafte, Animalische. Die Horrorliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts nimmt das Motiv, und mit ihm den Werwolf, dankbar auf. Der Wolf bleibt, auch als Fiktion, Sinnbild des Bösen.
Erst die Vermarktungsmaschinerie des 20. Jahrhunderts macht das Grossraubtier salonfähig. Hermann Hesse lässt den freiheitsgierigen «Steppenwolf» von der Leine; die Hippies folgen seinen Spuren. In den Kinosälen tanzt Kevin Costner mit dem Wolf; die Zuschauer schunkeln selbstvergessen mit.
Urängste und Willkommenskultur
Mitte der 1990er-Jahre verirrt sich der Posterboy der Popkultur wieder in die Schweiz. Es ist ein böses Erwachen. Der Talboden hat sich in ein touristisches Eldorado verwandelt. Die Jagd- und Rückzugsgebiete in den Bergen sind sorgsam gepflegten Kulturlandschaften gewichen. Ein Kulturschock für den einsamen Wolf.
Einen «Naturschock» erleiden Schafzüchter und ihre Fürsprecher. Bei manchen kehren jahrhundertealte Ressentiments zurück: «Bereits ein Schaf ist ethisch, emotional und ökologisch wertvoller als ein Wolf» schreibt ein Wolfsgegner im Wallis. Andere belassen es nicht bei Worten: 1998 wird ein geschossener Wolf im Goms vor eine Kadaversammelstelle gelegt. Monate später wird sein Bruder – offenbar unabsichtlich – auf dem Simplon von einem Schneepflug überrollt.
Im Flachland ist die Empörung gross. «Mörder!», schreit eine urbane Öko-Bewegung – und erhebt den Wolf zum Vorkämpfer in eigener Sache: Er soll, stellvertretend für die müde modernisierten Städter, die verlorene Wildnis zurückholen. Ein bisschen Chaos in einer überregulierten Welt.