Das Wichtigste in Kürze:
- Nach 9 Jahren Sozialhilfe kämpft sich eine alleinerziehende Mutter ins Erwerbsleben zurück.
- Ihre Gemeinde fordert von ihr nun fast 225'000 Franken zurück.
- Sie soll das Geld über 20 Jahre lang in monatlichen Raten von 980 Franken abstottern.
- Experten kritisieren das Vorgehen der Gemeinde als unzulässig. Unter anderem habe sie falsches Recht angewendet.
- Die Gemeinde sieht sich jedoch im Recht und bleibt bei den Forderungen.
J.C. steckte als alleinerziehende Mutter über mehrere Jahre in der Armutsfalle fest. Ihr Sohn war viel zu früh auf die Welt gekommen und brauchte intensive Pflege. An Arbeiten war nicht zu denken, dann zerbrach ihre Ehe. Der Vater konnte keine angemessenen Alimente bezahlen. Das belastete die Mutter auch psychisch.
Nach neun Jahren schaffte sie den Schritt zurück ins Berufsleben. Heute hat J.C. eine gute Stelle und verdient 6700 Franken pro Monat.
Gemeinde fordert fast 225'000 Franken zurück
Im letzten Herbst bekommt sie ohne Vorwarnung dicke Post von ihrer Wohngemeinde, Münchenstein BL. Die Gemeinde fordert die Rückerstattung von 224'866 Franken für bezogene Sozialleistungen zwischen 2003 und 2012.
Ein Schock für die 43-jährige Mutter. Die Gemeinde will zudem, dass sie eine Vereinbarung unterzeichnet. Sie soll fast 20 Jahre lang jeden Monat 980 Franken abzahlen. Diese Forderung löst bei J.C. Existenzangst aus. Sie weiss nicht, ob und wie sie die Summe so lange abstottern kann. Zumal sie auch noch Schulden bei Freunden und Bekannten hat, aus der Zeit als sie Sozialhilfe bezog.
Anwalt kritisiert Vorgehen der Gemeinde
Ihr Anwalt Pierre Heusser ist auf Sozialhilferecht spezialisiert und Vertrauensanwalt der UFS, der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht. Er hält fest, dass in der Schweiz auch rechtmässig bezogene Sozialhilfe unter bestimmten Umständen zurückbezahlt werden muss: «Wenn jemand aus einer Notlage herauskommt, dann vielleicht noch erbt oder in gute finanzielle Verhältnisse kommt, soll er das dem Staat oder der Gemeinde zurückbezahlen.» Die Frage sei nur, wann und unter welchen Bedingungen.
Pierre Heusser kritisiert im Fall seiner Mandantin, dass die Behörden nie das Gespräch mit ihr gesucht hatten und dass die Summe von 224'866 Franken viel zu hoch sei. Und dass vermutlich Beiträge eingerechnet wurden, die nicht zurückverlangt werden können.
«Unzulässige Vereinbarung»
Pierre Heusser kritisiert die Vereinbarung, die seiner Mandantin geschickt wurde. Diese sei von A bis Z unzulässig. Eine Gemeinde müsse grundsätzlich verfügen und nicht Vereinbarungen vorlegen. Denn nur gegen eine Verfügung ist eine Einsprache möglich. Und die extrem lange Dauer von beinahe 20 Jahren widerspreche jeglichen gesetzlichen Vorgaben. Pierre Heusser hat seiner Mandantin geraten, diese Vereinbarung auf gar keinen Fall zu unterschreiben.
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Altes oder neues Recht: Was gilt?
Pierre Heusser zweifelt zudem an der rechtlichen Grundlage für die Forderung: Im Kanton Baselland ist seit dem 01. Januar 2016 ein neues, verschärftes Sozialhilfegesetz in Kraft. Seine Klientin bezog bereits ab 2012 keine Sozialhilfe mehr, trotzdem wandte die Gemeinde die neuen Bestimmungen an.
Welches Recht gilt? Peter Hänni, emeritierter Staatsrechtsprofessor der Universität Freiburg, erklärt: «Eine Anwendung von neuem Recht muss verhältnismässig sein, sie muss Treu und Glauben beachten und sie darf das Gleichbehandlungsgebot nicht verletzen. Aufgrund dieser Grundsätze bin ich der Meinung, dass das alte Gesetz gilt.»
Grosse Unterschiede zwischen den Kantonen
In der Schweiz ist die Sozialhilfe kantonal geregelt. Das Ziel der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe ist, die Bestimmungen zu vereinheitlichen, auch was die Rückerstattung von Sozialhilfe betrifft.
Alexander Suter, zuständig bei der SKOS für Recht und Beratung, erklärt, dass es bei der Rückerstattung Unterschiede gibt. Es gebe Kantone, die Sozialhilfe-Leistungen nur zurückfordern, wenn jemand erbt oder im Lotto gewinnt. Andere Kantone wie Baselland fordern Rückerstattungen auch aus dem normalen Erwerbseinkommen.
Aus Sicht der Betroffenen ist das eine stossende Ungleichbehandlung, je nach Wohnkanton. Die SKOS empfiehlt, keine Rückerstattung aus der Erwerbstätigkeit zu fordern. Skos-Jurist Alexander Suter: «Man möchte die Motivation zur Selbsthilfe nicht untergraben. Also dass jemand wieder eine Erwerbstätigkeit aufnimmt und möglichst viel verdient, und für sich und die Familie sorgen kann.»
Doch genau so ergeht es J.C. Sie fühlt sich von der Gemeinde unfair behandelt. Sie sagt, sie empfinde das Vorgehen der Gemeinde als Bestrafung, nachdem sie sich endlich aus der Sozialhilfe herausgekämpft habe.
Gemeinde sieht sich im Recht
Die Gemeinde Münchenstein weist die Kritik an ihrem Vorgehen zurück und schreibt «Kassensturz»: «Es ist nach geltendem Sozialhilferecht des Kantons Basel-Landschaft unbestritten, dass die von der öffentlichen Hand geleistete materielle Hilfe mit einer Rückzahlungsverpflichtung behaftet ist. Die Gemeindeverwaltung richtet sich nach den geltenden gesetzlichen Vorgaben und fordert die Rückerstattungspflichtigen zur Einreichung der Unterlagen über Einkommen und Vermögen auf. Wenn ein Einkommens-und/oder Vermögensüberschuss vorhanden ist, wird eine einvernehmliche Vereinbarung über mögliche Ratenzahlungen mit den Rückerstattungspflichtigen angestrebt.»
Gemeindepräsident Giorgio Lüthi bleibt auch im Interview hart und wünscht sich eine Klärung der Rechtslage durch die gerichtlichen Instanzen. Die Frau werde nun verfügt und könne den Rechtsweg einschlagen – vom Regierungsrat bis zum Bundesgericht.
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