Äusserlich sieht man ihnen nicht an, was sie stresst – jedenfalls nicht sofort. Innerlich aber reagieren Tomaten unmittelbar, schon auf die kleinste Berührung. Und erst recht auf Wassermangel, Hitze, Insekten- oder Pilzbefall.
Tomaten sind – wie viele Pflanzen – äusserst sensibel. Mit einer neuen Methode kann ihr «Stressniveau» sichtbar gemacht werden. Um das zu nutzen, hat Gemüsebauer Julien Stoll aus Yverdon-les-Bains (VD) einen Teil seiner Tomaten verkabelt. «So kann mir die Tomate sagen: Ich habe Hunger, ich habe Durst, es geht mir nicht gut – und ich kann reagieren.»
Elektrische Signale zeigen Stress
Möglich machen es zwei Elektroden, die wie kleine Nadeln in den Stamm der Pflanze gesteckt werden. Gemessen wird die Potenzialdifferenz zwischen den Elektroden. «Das ist wie ein EKG beim Menschen, wo man eine Elektrode auf der Brust und eine am Arm platziert und den Unterschied misst», erklärt Moritz Graeff. Er ist Pflanzenbiologe bei der Firma Vivent in Gland (VD), die das System erfunden hat. So lassen sich elektrische Signale messen, die durch den Stiel der Pflanze laufen. Wenn die Kurve ausschlägt, erlebt die Pflanze Stress.
Es ist die Form der Kurve, die Aufschluss gibt, was dahintersteckt. Zudem werden die Rohdaten mittels künstlicher Intelligenz analysiert. Während eine Berührung zu einem einmaligen starken Ausschlag führt, führt ein knabberndes Insekt zu kleineren, regelmässigeren Ausschlägen. Ein Insekten- oder Pilzbefall kann den Tag-Nacht-Rhythmus der Tomate stören, wie die Messungen zeigen.
Sofort reagieren, statt erst in Wochen
Für Gemüsebauer Julien Stoll ist diese Information in Echtzeit Gold wert. Beim grössten Tomatenproduzenten der Schweiz ist er verantwortlich für das Wohlergehen der Pflanzen. Im Gewächshaus kann er Wärme, Wasser und Luftfeuchtigkeit minutiös kalibrieren.
Kleinste Änderungen zählen: «Wenn das Klima zu heiss ist oder zu wenig feucht, hat das einen Effekt auf die nächsten sieben Wochen und auf die nächsten sieben Tomaten-Blüten», sagt er. Mit dem neuen System könne er sofort eingreifen, wenn es der Pflanze nicht gut gehe – und nicht erst, wenn die Blätter oder Früchte sich zum Beispiel verfärben.
So optimiert Stoll nicht nur die Produktion. Er kann auch Wasser und Energie sparen. Noch braucht er aber viel Fachwissen, um die Informationen der Tomaten in konkrete Entscheidungen umzumünzen. Heute sei das System ein Assistent, um gute Entscheidungen zu treffen. Das könnte sich mit zunehmender Automatisierung ändern. «Der nächste Schritt ist, dass die Maschine die Entscheidung selber trifft und zum Beispiel die Bewässerung alleine auslöst.»
Auch andere Pflanzen «sprechen»
Das System hat Potenzial. Darum ist Agroscope in die Forschung eingestiegen. In der eidgenössischen Forschungsanstalt hat Cédric Camps, Leiter Gewächshauskulturen, das Prinzip auf weitere Kulturen angewendet. «Gurken, Auberginen und Basilikum reagieren ähnlich auf Stress», sagt Camps. Holzige Pflanzen wie Reben hingegen würden eine andere «Sprache» sprechen.
Die Methode der Elektrophysiologie sei faszinierend, denn bisher habe man meist Teile der Pflanze zerstören müssen, um sie zu erforschen. «Dass uns die Pflanze selber Informationen von ihrem Erleben schickt, ohne dass wir sie anfassen, ist neu.» Die Herausforderung sei nun, die Sprache der Pflanzen weiter zu entschlüsseln – und für möglichst viele nutzbar zu machen.