Das erste Leben der Esther Cahn war ein Leben, um das sie sicher beneidet worden wäre: Leitende Position bei einer Versicherung, gut bezahlt, Wohnung mit Seesicht in Luzern. Ihre Karriere war lanciert, die Erfolgskurve zeigte steil nach oben. «Ich hatte alles», sagt die Luzernerin. Vor drei Jahren aber hat sie ihren Job einfach gekündigt.
«Ich weiss noch, wie ich im Zug von Zürich nach Luzern sass. Ich hatte gerade ein Gespräch mit meinem Chef hinter mir. Auf der Rückfahrt musste ich so schnell ich konnte das E-Mail mit der Kündigung verschicken. Ich wusste, sonst verlässt mich wieder der Mut.» So startete sie in ihr zweites Leben, das einer Start-up-Gründerin.
Leidenschaft für eigene Ideen
Kann das jede und jeder? «Alle, die bereit sind, intensiv und hart zu arbeiten», antwortet Beat Schillig auf diese Frage. Schillig, selbst Gründer, präsidiert das Institut für Jungunternehmen IFJ und berät in dieser Funktion Menschen, die sich selbständig machen. Er weiss, wie diese Leute ticken. Oft seien es Leute, die erstens etwas in der Welt verändern oder verbessern wollen und zweitens keinen Chef haben wollen. Dafür nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand.
Die Frage ist: Gibt es Leute, die bereit sind, für meine Idee zu bezahlen?
Die Motivation, so hart zu arbeiten, komme aber nur, wenn man viel Leidenschaft für die eigene Idee hat. «Wenn man die hat, dann ist man oft ja auch gut in dem, was man macht. Und wenn man überdurchschnittlich gut ist, ist die einzige offene Frage: Kann ich das auch vermarkten? Kann ich mein Angebot verkaufen?» Falls die Antwort auf diese Frage bejaht werden kann, stünden die Chancen auf ein erfolgreiches Leben in der Selbständigkeit gut, so Schillig.
Der Job ist das Leben
Für Esther Cahn ging der Plan auf. Sie gründete vor drei Jahren ihr eigenes Unternehmen Signifikant – entstanden ist es aus der Idee ihrer Masterarbeit. Das entwickelte Tool ermöglicht es, den Erfolg von Werbekampagnen in Echtzeit zu überprüfen. Bisher war das nur im Nachhinein möglich.
Schwarze Zahlen schreibt das Start-up noch nicht – aber es könnte jeden Moment so weit sein. Der Schritt ins Ungewisse habe sich gelohnt.
24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche bin ich mit dem Kopf bei meiner Firma.
Das neue Leben der Esther Cahn hat mit dem alten nicht mehr viel zu tun: «Ich arbeite rund um die Uhr.» Ihr Hund sei teilweise der einzige Grund, weshalb sie überhaupt das Haus verlasse. Ihr Freundeskreis habe sich «ausgedünnt», ab und zu gehe sie zum Ausgleich ins Kino. «Es gibt Dinge, die in einem normalen Leben anders wären», sagt die Luzernerin, «aber es ist jetzt halt so.» Sie ist die Firma – die Firma ist sie. Und das sei gut so.
Im Jahr 2020 machten es viele Leute in der Schweiz Esther Cahn nach und gründeten ihre eigene Firma. 2019 war bereits ein Rekordjahr, doch 2020 toppte es sogar.
Die Grenzen verschwimmen
Jungunternehmerinnen und Jungunternehmer verzichten scheinbar auf ihr Privatleben – für den Job.
Doch der Eindruck, dass man in der Selbständigkeit vereinsame, täusche, sagt Beat Schillig. «Die Grenzen, was Arbeit und was Freizeit ist, verschwimmen. Auch die Grenzen, wer jetzt Mitarbeiter, Kunde, Lieferanten oder Freunde sind, verschwimmen. Der Vorteil als Unternehmerin oder Unternehmer ist, dass ich mir das gesamte Umfeld nämlich selbst aussuchen kann.» So entstehe oft ein neues soziales Netzwerk mit neuen Freunden. Was klar ist: Wer sich selbständig machen will, braucht Mut, Veränderungen in Kauf zu nehmen.
Vom Multimillionär zum Fast-Pleitier
Nicht alle haben mit ihrem Start-up Erfolg, das ist klar. Aber wenige erleben so ein Auf und Ab wie der Ostschweizer Roger Koch. Mit einem selbst gegründeten Übersetzungsservice schaffte er den «Exit», den Verkauf seines Unternehmens.
Roger Koch wurde durch den Exit reich. Multimillionär. Mit diesem Geld gründete er die Zigarettenfirma Koch & Gsell, wollte als erster Hanfzigaretten mit Schweizer Tabak herstellen, wurde damit zum Medien-Star auf der ganzen Welt.
Ich hätte mit 40 Jahren nie mehr arbeiten müssen.
Dann kam der tiefe Fall. Er sei zu naiv gewesen, erzählt er heute. Er hat Investoren geglaubt, die ihm 10 Millionen Franken versprochen haben. Koch hat das Geld investiert und ausgegeben. Plötzlich hatte er einen Schuldenhaufen von mehreren Millionen Franken.
Aufgeben?
«Viel Durchhaltewillen ist ein wichtiges Merkmal für den Erfolg», so Beat Schillig vom IFJ. Bei einer Umfrage hätten sie vor Jahren herausgefunden, dass Gründerinnen und Gründer überdurchschnittlich viel arbeiten pro Woche. Etwa 68 Stunden.
In der gleichen Umfrage wurde gefragt, ob sie den Schritt in die Selbständigkeit bereuen – oder ob sie es wieder tun würden. 94 Prozent, die überwältigende Mehrheit, würde den selben Weg wählen. Und das, obwohl nur etwa ein Drittel der Gründerinnen und Gründer zu diesem Zeitpunkt finanziell bereits solide aufgestellt waren. Die eigene Freiheit und Selbstverwirklichung zählen offenbar mehr als das Einkommen.
Für Roger Koch ist aufgeben keine Option. «Die Situation ist halt so, wie sie ist. Damit müssen wir uns arrangieren.» Er will kämpfen.
«Es könnte ja auch gut kommen. Solange niemand die Zukunft vorhersagen kann, glaube ich daran.» Er trage zudem die Verantwortung gegenüber den Mitarbeitenden und den Geldgeberinnen und Geldgebern. Diese wolle er nicht hängen lassen.
Ich kann und will nicht aufgeben. Solange ich Hoffnung habe, gebe ich nicht auf. Lieber sterbe ich, als aufzugeben.
Monat für Monat zahlt er jetzt die Schulden ab. 2 von 8 Millionen sind bereits bezahlt. Er gibt nicht auf. Und plant bereits den neusten Streich: Eine Zigarette, nur aus CBD-Hanf, ganz ohne Tabak. Auch das ist eine Weltneuheit.
Dieser Mensch will fliegen
Ebenfalls hoch hinaus – und zwar wortwörtlich – will Patrick Künzler. Wir Menschen bauen Flugzeuge, Helikopter, Raketen. Wir wollen in die Luft, abheben. An entsprechenden Entwicklungen tüftelt Künzler. Er hat ein waghalsiges, ein beinahe verrücktes Ziel. Doch er ist überzeugt davon, dass er es schafft.
Ich will mit meinem Arsch einen Helikopter fliegen.
Als kleiner Bub wollte er noch Autodesign studieren, aus ihm ist jedoch schlussendlich ein Arzt geworden. An der renommierten Hochschule und Universität MIT in Boston arbeitete er an Hirnforschungsprojekten.
Plötzlich hat ein anderes Projekt sein Interesse geweckt: die Aufgabe, ein Auto zu entwickeln, das gut für die Stadt ist. «Ich fand das so faszinierend, ich hab mich gleich dafür beworben.» Seine frühere Leidenschaft hatte ihn wieder im Bann. Er wurde zum Erfinder, zum Gründer, zum Technologie-Pionier.
Er entwickelte einen speziellen Stuhl, der einem das Gefühl gibt, beim Sitzen zu schweben. Mit diesem Stuhl will er Fahrzeuge steuern – Autos, aber auch Helikopter. Bisher kann er mit seinem Gesäss Drohnen fliegen. So weit ist er also nicht mehr davon weg, «mit seinem Arsch zu fliegen».
Genie oder Wahnsinn?
Als Wahnsinnige würde er solche hochinnovative Gründerinnen und Gründer wie Patrick Künzler nicht bezeichnen, so Beat Schillig vom IFJ. «Sie alle sind auf ihre Art ein wenig Genie.» Manchmal sei man einfach der Zeit voraus und tüftle jahrelang an einer Idee, bevor auch andere Menschen an das Gleiche glauben. Er hat schon mehrmals erlebt, dass Firmen nach Jahren plötzlich Aufwind kriegten und durchstarteten. Durchhalten lohne sich also.