Rund 200'000 Kinder und Jugendliche in der Schweiz leben in schwierigen familiären Verhältnissen: ihre Eltern sind überfordert, vernachlässigen das Kind oder sind gewalttätig, süchtig. Wenn es aus diesen oder anderen Gründen für die Entwicklung des Kindes besser ist, das Elternhaus über kurz oder lang zu verlassen, schalten sich die Behörden ein.
Sie suchen eine Lösung – sei es bei Verwandten, in einem Heim oder bei Pflegefamilien. Das Wissen über diese Vorgänge war bisher begrenzt – nicht einmal die Zahl der betroffenen Familien respektive der Pflegekinder wird erfasst.
Licht ins Dunkel bringen
Das Forschungsprojekt «Pflegekinder – next generation» soll nun Licht ins Dunkel bringen: Es soll die Grundlagen liefern, um Abläufe und Strukturen für die betroffenen Familien zu vereinheitlichen und zu verbessern.
In den letzten drei Jahren haben die Forschenden die kantonalen Pflegekindersysteme miteinander verglichen und auch in den Bereichen «Partizipation» und «Gute Begleitung» Studien durchgeführt. In der ersten vergleichenden Studie zur Situation in den Kantonen möchte Co-Autor Stefan Schnurr von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) kein «Best-of» nennen. Er spricht von einem Flickenteppich, der dringend einheitliche Standards im Pflegekinderwesen brauche.
Rollen, Aufgaben und Ziele klären
«In welchem Kanton ein Kind aufwächst, ist mitentscheidend für seine Erfahrungen als Pflegekind», sagt Stefan Schnurr vom Institut Kinder- und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Damit Pflegekinder in allen Kantonen geborgen und sicher aufwachsen können, braucht es Konzepte und Standards. Zentral wären sie bei den Fragen:
- Welches Kind passt zu welchen Pflegeeltern? (Eignungsabklärung)
- Wer darf Pflegekinder aufnehmen? (Bewilligung)
- Wie wird sichergestellt, dass es den Kindern wirklich gut geht? (Aufsicht)
Mitsprache für betroffene Kinder
Auf dem Papier haben die Kinder und Jugendlichen heute schon Mitspracherechte, wenn es darum geht, eine Pflegefamilie zu finden. Gemäss «Pflegekinder – next generation» müssen sie jedoch tatsächlich mitreden können, auch nach dem Entscheid einer Fremdplatzierung. Hier sehen die Studienverantwortlichen auf kantonaler und nationaler Ebene Handlungsbedarf.
Die Studien kommen weiter zum Schluss, dass es eine ständige Begleitung aller Beteiligten braucht. Im Notfall müsste Unterstützung rund um die Uhr erreichbar sein, denn Krisen halten sich nicht an Bürozeiten.
Für Schnurr wäre auch zentral, dass nach dem Entscheid, ein Kind aus seinem Elternhaus zu nehmen und in eine Pflegefamilie zu geben, der Kontakt zu den leiblichen Eltern nicht abbrechen dürfe. Sonst sei später in einer entspannteren Phase ein «Heimkehren» nicht möglich.
Schritte in die Selbständigkeit
Übergänge wie etwa die Schritte in die Selbständigkeit brauchen gemäss Studie auch Aufmerksamkeit. Je nach Kanton endet das Pflegeverhältnis mit 18 oder 25 Jahren. Werden die Pflegekinder verabschiedet und quasi vor die Türe gestellt, besteht die Gefahr, dass sie in die nächsten ganz praktischen Probleme straucheln: Wohin? Reicht das Geld für eine Wohnung oder ein Zimmer irgendwo?
Klar ist: Im Pflegekinderwesen gibt es viele offene Fragen – und Handlungsbedarf.